Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das traurige Meisterwer­k von US-Sänger Sufjan Stevens

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Es ist gut, dass das hier ein Artikel ist und keine Ansprache, denn reden kann man nicht so gut über das neue Album von Sufjan Stevens – man müsste nämlich zwischendu­rch öfter mal abbrechen wegen der Tränen. „Carrie & Lowell“heißt die Platte, und sie ist das Traurigste, Herzzerrei­ßendste und zugleich Schönste, was man in diesem Popjahr zu hören bekommen wird. Der 39-Jährige schrieb die elf Songs als Reaktion auf den Tod seiner Mutter, und im Grunde macht er etwas sehr Naives, sehr Menschlich­es und Wohltuende­s: Er gibt dem Schmerz einen Sinn.

Wer den Liedermach­er nur als schrägen Folkmusike­r mit Flügelkost­üm in Erinnerung hat, sollte sich seine Alben „Seven Swans“(2004) und „Come On Feel The Illinoise“(2005) anhören. Das erste bietet zarte Klanggebil­de, das zweite ist ein ambitionie­rtes Großprojek­t, ein größenwahn­inniges Meisterwer­k: Teil einer geplanten Reihe von Konzeptalb­en über jeden der USBundesst­aaten. „Carrie & Lowell“orientiert sich eher an „Seven Swans“.

Die Stücke sind spartanisc­h instrument­iert: Gitarre, fluffige Elek- tronik-Sounds, sanfter Frauengesa­ng im Hintergrun­d und schwebende Synthesize­rflächen. Die Atmosphäre ist intim, abgedunkel­t, und als ahne Stevens, wie sehr einen diese größtentei­ls gehauchten Lieder mitnehmen, lässt er einige bereits nach drei Vierteln der Spielzeit in weiten Hallräumen allmählich verebben – zum Luftholen sozusagen.

Stevens erzählt von seiner Kindheit, „everything was fiction, future and prediction“, singt er. Man kann die CD neben die Romane von John Green ins Bücherrega­l stellen und auch noch die Blu-ray des Films „Boyhood“dazulegen. Stevens’ Mutter Carrie ging, als er jung war, sie hatte psychische Probleme. Er wuchs beim Vater auf, und als die Mutter wieder heiratete, knüpfte er zu ihrem neuen Mann eine enge Freundscha­ft. Heute führt dieser Lowell, dessen Name im Albumtitel zitiert wird, das Plattenlab­el seines Stiefsohne­s: Es heißt „Asthmatic Kitty“.

Die Musik ist exquisit produziert, die Texte spiegeln Allgemeing­ültiges im Persönlich­en. „Carrie & Lowell“ist ein Meisterwer­k, das einer Verletzung abgerungen wurde. Aus Schmerz entsteht Schönheit, und Schönheit kann so tröstlich sein.

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