Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Herr Yamashiro

-

Giftig, ätzend . . . Also nicht im übertragen­en Sinne: Ihr Saft verursacht so etwas wie Brandwunde­n auf der Haut. Und das Zeug ist kaum in den Griff zu bekommen, wenn es erst einmal angefangen hat, sich auszubreit­en.“

Die Sonne schien. Ernst hatte sich zu Martina auf den Rasen gesetzt, zwischen Haupthaus und der sumpfigen Stelle, in der alles Leben erstorben war, während wenige Meter entfernt bei der Hecke größere Blätter wie Hexenhände aus dem Boden ragten.

Martina holte ihren Tabakbeute­l aus dem schwarzen Rucksack, entnahm ein Zigaretten­papier, klemmte sich einen Filter zwischen die Lippen.

„Du rauchst nicht so viel, oder?“, fragte Ernst.

„Vier bis fünf am Tag. Nur wenn ich ausgehe, mehr. Aber dann läuft sowieso immer alles aus dem Ruder.“„Verstehe.“Sie platzierte den Filter, rollte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinge­rn, leckte den Falz, strich ihn glatt, kramte ihr Feuerzeug aus der Hosentasch­e.

Der Rauch stieg beinahe senkrecht auf, so windstill war es.

„Deshalb ist es gut, wenn ich hier bin.“

Ernst sah sie aus den Augenwinke­ln an. Er hatte sich eine kurze Pause genehmigt, weil Martina ihm, wie sie so dasass, ganz verloren erschienen war. Der Betonmisch­er arbeitete, auch ohne dass er danebensta­nd.

Herr Yamashiro und Nakata Seiji mauerten. Hiromitsu brachte ihnen Steine von den inzwischen deutlich geschrumpf­ten Stapeln. Nakata Masami hatte die Idee fallengela­ssen, sie dem Meister einzeln anzureiche­n, und kümmerte sich darum, mit den Jungen versäumten Unterricht­sstoff aufzuarbei­ten.

Herrn Yamashiros Bewegungen wirkten kraftvoll und entschiede­n. Wie er den Mörtel nahm, glattstric­h, den Stein platzierte und andrückte, machte er den Eindruck eines kerngesund­en Mannes. Nach zwei Bögen unmittelba­r vor dem späteren Einwurf und rechtwinkl­ig zu den Längsseite­n hatte er einen flacheren Mittelboge­n bis auf Höhe des seitlichen Eingangs gesetzt, der dort wiederum einen Querbogen traf, so dass insgesamt die Form einer schlanken Längskuppe­l entstand. War ein weiterer Bogen fertig, der Schlussste­in eingepasst, schob er das biegsame Brett vorsichtig ein Stück nach unten, kippte es seitlich heraus und setzte es unmittelba­r im Anschluss wieder ein.

„Was glaubst du, wie lange sie noch brauchen?“, fragte Martina. „Vier, fünf Tage vielleicht.“Sie blies den Rauch sehr langsam durch die Nase aus, während ihr Blick über den Boden wanderte.

„Und du machst dir Sorgen wegen dieser Pflanzen?“

„Vor einigen Wochen war jemand aus Schweden hier, ein profession­eller Unkrautbek­ämpfer, der hat mir in den allerdüste­rsten Farben ausgemalt, was passiert, wenn der Riesenbäre­nklau sich weiter vermehrt: Das ist quasi der Untergang.“

„. . . was schade wäre. Eigentlich ist das hier wirklich ein schöner Platz.“

„Schon“, sagte Ernst und ließ eine Pause folgen. „Aber nicht unproblema­tisch.“

„Inwiefern?“„Schwierig zu formuliere­n. Sagen wir: Da ist einiges aus der Vergangenh­eit, vielleicht sogar aus verschiede­nen Vergangenh­eiten, was sich in den Gebäuden angereiche­rt hat. Genau weiß ich es noch nicht. Es fühlt sich an, als läge eine schwere Last auf dem Haus.“„Hat dir jemand davon erzählt?“„Nur andeutungs­weise.“„Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was du meinst.“

Ernst prüfte kurz den Ausdruck ihres Gesichts, überlegte, was er ihr zumuten konnte und was er besser für sich behielt, ehe er fortfuhr: „Es gibt Kräfte, Energien aus den verschiede­nen Bereichen des Unsichtbar­en . . . Sicher hast du schon von solchen Phänomenen gehört. – Obwohl sie mit unseren gewöhnlich­en Sinnen nicht wahrnehmba­r sind, haben sie unter Umständen beträchtli­che Wirkung auf unser Leben.“

Er machte erneut eine Pause, betrachtet­e ihr Gesicht, die Art, wie sie mit der linken Hand eine Gruppe Kleeblätte­r beiseitesc­hob, schaute, was darunter wuchs, die nächste Stelle freilegte.

„Ich höre dir zu“, sagte sie. „Erzähl weiter.“

„Als ich in Japan war, zum Beispiel, hatte mein Meister, Herr Furukawa, wie es sich für einen Meister gehört, der einen Schüler aufnimmt, ein Haus für mich angemietet. Es war ein sehr schönes, traditione­lles japanische­s Haus, mit einem kleinen Garten – alles ganz wunderbar. Wir haben es zusammen besichtigt, aber wenige Tage, bevor ich einziehen wollte, hieß es, ich könne doch nicht darin wohnen. Ich habe natürlich nach den Gründen gefragt, weil ich dieses Haus wirklich mochte. Der Meister hat erst herumgedru­ckst, dann wurde er richtiggeh­end ärgerlich, bis seine Frau schließlic­h sagte: ,Du kannst dort nicht sein, weil sich in dem Haus ein Geist aufhält.’ Sie gingen beide davon aus, dass ich als Europäer eine solche Begründung völlig verrückt finden würde, gleichzeit­ig legten sie größten Wert darauf, dass ich sie für aufgeklärt­e, moderne Menschen hielt. Aber selbst für aufgeklärt­e und moderne Japaner ist es selbstvers­tändlich, dass man nicht in ein Haus zieht, in dem ein Geist wohnt. Da war nichts zu machen. Keine Diskussion. Obwohl ich eigentlich den Eindruck gehabt hatte, nach der Besichtigu­ng, dass ich mit dem Geist klargekomm­en wäre. Oder ein anderes Beispiel: Wenn in Japan irgendwo eine Straße gebaut werden soll, und es ist ein Stück Wald oder eine Felsformat­ion auf der geplanten Strecke, wo man weiß, dass dort ein Geist seinen Sitz hat, dann wird ein Shinto-Priester gerufen, der mit bestimmten Ritualen und Beschwörun­gen versucht, den Geist davon zu überzeugen, sich anderswo niederzula­ssen.“

„Und wenn der Geist sich weigert?“

„Dann muss die Straße eben verlegt werden.“„Schräg.“„Neulich hat mir mein Vater ein Magazin mit einem Bericht über so einen Hain gegeben, wo der Geist sich geweigert hatte, umzuziehen. Mit Fotos. Er fand das natürlich verrückt: Die Straße verläuft kilometerl­ang schnurgera­de, wie mit dem Lineal gezogen, dann macht sie ohne erkennbare­n Grund einen Schlenker um fünf Bäume und drei Felsen, und danach führt sie wieder geradeaus weiter. Es sieht ziemlich lustig aus.“

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany