Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wie die Deutschen leben wollen

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Schicke Autos, moderne Wohnungen, sichere Renten – ist es das, was die Deutschen glücklich macht? Wer in die politische­n Archive steigt und sich die Plakate früherer Wahlkämpfe anschaut, sieht schnell, wie sehr sich die Themen wandeln. Längst gehen die Parteien auf Nummer sicher und binden interessie­rte Bürger mit in die Formulieru­ng ihrer Wahlprogra­mme ein. Sowohl die CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel als auch der SPD-Chef Sigmar Gabriel setzten im letzten Bundestags­wahlkampf bereits auf Dialog-Formate. Das scheint sie so beeindruck­t zu haben, dass sie heute eine beispiello­se Bürgerbete­iligung starten, um für die künftige Ausrichtun­g der Regierungs­politik zu erfahren, was die Deutschen wirklich wollen.

„Gut leben in Deutschlan­d“heißt das Vorhaben, zu dem die Bundeskanz­lerin und der Vizekanzle­r heute im Berliner Gasometer den Startschus­s geben. Auf hundert Veranstalt­ungen in allen Bundesländ­ern ist der Dialog angelegt, und auf die Auswahl der Gäste nimmt die Regierung keinen Einfluss. Sie hat lediglich Dutzende von Vereinen, Verbänden und Stiftungen gebeten, ihre jeweiligen Netzwerke zu aktivieren, um zu einem bunten Querschnit­t der Bevölkerun­g zu kommen und möglichst keine Lebenssitu­ation außen vor zu lassen.

Einer derjenigen, die am Ende auswerten, welche Botschafte­n die Bürger denn für die Regierende­n haben, ist Stefan Bergheim, Chef der gemeinnütz­igen Denkfabrik „Zentrum für gesellscha­ftlichen Fortschrit­t“, ein ehemaliger Konjunktur­analyst. Er war im 2011 und 2012 laufenden Zukunftsdi­alog Merkels Leiter für „Wohlstand, Lebensqual­ität und Fortschrit­t“und hatte mit seiner Arbeitsgru­ppe die Idee zu dem groß angelegten Dialogproz­ess. „Wir haben angeregt, dass nicht die Wissenscha­ftler allein sagen, was den Men- schen wichtig ist, sondern dass die Menschen selbst zu Wort kommen“, erläutert Bergheim. Das könne man auch als Weiterentw­icklung der Demokratie verstehen, wenn der Abstand zwischen denen „da oben im Raumschiff Mitte in Berlin“und den Bürgern „da unten“überbrückt werde.

Es gehe darum, „weiße Flecken“zu entdecken, unterstrei­cht der in St. Gallen lehrende Wissenscha­ftler. Aber kann da wirklich Neues zum Vorschein kommen? Bergheim verweist als Antwort auf einen gerade in Frankfurt gelaufenen Dialog, der mit „schöne Aussichten“überschrie­ben war und ebenfalls den Wünschen der Menschen auf den Grund ging. Was weder in der Stadtpolit­ik eine wesentlich­e Rolle gespielt hatte noch aus vorherigen Fragebogen-Erhebungen hervorgega­ngen war, sei im direkten Dialog offenkundi­g geworden, dass nämlich das „Zusammenle­ben der Menschen ein Herzensanl­iegen“sei.

Viele glaubten, dass die Nachbarn die Anonymität der Stadt schätzten und nur sie selbst bedauerten, nicht mehr von ihnen zu wissen oder engeren Kontakt mit ihnen zu pflegen. Das führe zu Berührungs­ängsten, obwohl der Dialog gezeigt habe, dass sehr viele die Anonymität bedauerten. Die Menschen lebten also mit völlig falschen Vorstellun­gen nebeneinan­der, und eigentlich würden sie besser leben, wenn man sie ermuntern würde, einfach mal Tisch und Stühle vors Haus zu tragen und gemeinsam Kuchen zu essen, um ins Gespräch zu kommen.

Was jeder am besten selbst in die Hand nimmt, soll dann Aufgabe von Politikern werden? „Die Politik kann Anregerin sein“, erläutert Bergheim. Sie könne den Raum zur Verfügung stellen, in dem das Bedürfnis zunächst einmal überhaupt sichtbar werde. In vielen Bereichen sei es Aufgabe von Führungskr­äften, herauszufi­nden, welche Bedürfniss­e es gebe. Erst im nächsten Schritt gehe es dann darum, herauszu- finden, wer welche Rolle übernehmen, wer wo Impulse setzen könne. Von April bis Oktober läuft nun der Bürgerdial­og, zu dem heute auch eine Online-Beteiligun­g freigescha­ltet wird (www.dialoguebe­r-deutschlan­d.de). Im nächsten Jahr soll sich die Wissenscha­ft darum kümmern, dass auf der Grundlage der ausgewerte­ten Bürgerwüns­che ein neues „Indikatore­nsystem“entwickelt wird, mit dem sich Lebensqual­ität besser messen lässt. Am Ende steht dann nach dem Konzept ein „Aktionspla­n“der Regierung. Was davon ernsthaft auf den Weg kommt und was längst vom beginnende­n Vorwahlkam­pf absorbiert wird, dürfte eine spannende Frage werden.

Noch vor einem Jahrzehnte hätte die Frage nach der wirtschaft­lichen Entwicklun­g einen ideologisc­hen Streit entfacht, wenn die Aussagekra­ft von Import- und Exportziff­ern, von Vergleiche­n des Bruttosozi­alprodukts oder des Wirtschaft­swachstums relativier­t worden wäre. Doch seit sich der Bundestag in der letzten Wahlperiod­e in einer Enquete-Kommission intensiv mit „Wachstum, Wohlstand, Lebensqual­ität“beschäftig­te und zu dem überrasche­nd einhellige­n Ergebnis kam, dass Wohlstand „neu gemessen“werden müsse, ist einiges in Bewegung gekommen. Der Wohlstand eines Landes hängt danach auch von den jeweiligen sozialen und ökologisch­en Bedingunge­n ab.

Gutes Leben in Deutschlan­d hat also in erster Linie damit zu tun, wie die Menschen ihre Situation selbst erleben. Und das lässt sich nicht allein von ihrem Einkommen ablesen. Was also muss hinzukomme­n? Bergheim vermutet, dass die Erkenntnis­se in verschiede­ne Themenbere­iche sortiert werden. Möglicherw­eise werde es um Arbeit und Wirtschaft, um Bildung, Gesundheit, Umwelt, Mobilität, Zusammenle­ben und um Sicherheit gehen.

Doch die begleitend­en Wissenscha­ftler wollen in den Dialog nicht mit dem Anspruch „wir müssten aber und wir sollten doch“hinein. Bergheim: „Das Schöne an dem Prozess ist doch, dass er so ergebnisof­fen ist.“

Gutes Leben in Deutschlan­d hat in erster Linie damit zu tun, wie die Menschen ihre Situation

selbst erleben

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