Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wie ein Tweet das Leben zerstören kann

Ein schlechter Scherz im Internet kann die Reputation kosten: Jon Ronson hat für sein neues Buch Opfer von Shitstorms interviewt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Justine Sacco flog von New York nach Südafrika, wo sie über Weihnachte­n ihre Eltern besuchen wollte. Die Leiterin der Kommunikat­ionsabteil­ung in einem USMedienun­ternehmen hatte einen Zwischenst­opp in Heathrow, ihr war ein bisschen langweilig, deshalb twitterte sie launige Betrachtun­gen über das Reisen. Sie klagte über miefende Sitznachba­rn und schlechte Sandwiches, und kurz bevor sie ins Flugzeug stieg, sendete sie diesen Tweet: „Auf nach Afrika. Hoffe, ich bekomme kein Aids. Nur Spaß. Ich bin ja weiß.“Sie kicherte über sich selbst, sie fand sich lustig.

Elf Stunden dauerte der Flug, Sacco schlief viel, und nach der Landung schaltete sie ihr Telefon wieder ein. Sofort erschien die SMS einer Freundin: „Tut mir leid, was mit dir passiert.“Sacco begriff nicht. Dann klärten hunderte Hass-Mails sie auf: Ihr Tweet war tausendfac­h geteilt worden, Nachrichte­nportale berichtete­n; alle warfen ihr vor, rassistisc­h zu sein. Ihr Arbeitgebe­r hatte sie entlassen, die Familie sich von ihr losgesagt. Sacco war während des Flugs in einen Shitstorm geraten, sie hatte alles verloren.

Der Fall der 30-jährigen Frau ist das berühmtest­e Beispiel dafür, wie grausam soziale Medien sein können und wie mächtig. Der Journalist Jon Ronson hat über das Phänomen des Shitstorms nun ein Buch geschriebe­n, „So You’ve Been Publicly Shamed“. Es liest sich wie eine Horrorstor­y aus der Realität. Ständig fragt man: Kann mir das auch passieren? Ronson lässt keinen Zweifel daran, wie die Antwort lautet.

Er besuchte Opfer solcher öffentlich­en Demütigung­en, und jedes versichert­e, nichts Böses im Sinn gehabt zu haben, bloß gedankenlo­s gewesen zu sein. Justine Sacco sagte, sie finde, dass Amerikaner in Bezug auf die Probleme der Dritten Welt wie in einer Blase lebten. Sie habe mit ihrem Tweet darauf angespielt, sie habe sarkastisc­h sein wollen, nicht menschenfe­indlich.

Ähnlich war es bei Lindsey Stone. Die Mitarbeite­rin einer Gesundheit­sorganisat­ion kam zu zweifel- haftem Ruhm, weil sie an der Kriegs-Gedenkstät­te im amerikanis­chen Arlington vor einem Schild posierte, auf dem „Stille und Respekt“stand. Sie ließ sich mit gerecktem Mittelfing­er davor fotografie­ren und tat so, als schreie sie das Schild an. Das Foto postete sie bei Facebook. Kurz danach erhielt sie Todesdrohu­ngen, so etwas hätten die Gefallenen nicht verdient, hieß es. Bald war sie ihren Job los. Einen neuen Arbeitgebe­r fand sie nicht, weil jeder Interessen­t, der ihren Namen googelte, sofort auf das Foto stieß.

Lindsey Stone erklärt in Jon Ronsons Buch, wie es zu dem Foto kam. Sie pflegte einen Privatsche­rz mit ihrem Lebensgefä­hrten: Auf Reisen fotografie­rten sich die beiden vor Schildern und stellten dabei jeweils das Gegenteil von dem dar, was die Aufschrift­en verlangten. Wenig geschmacks­sicher vielleicht, unnötig auch, aber doch bloß ein Joke.

Ronson traf sich auch mit Initiatore­n von Shitstorms. Meist sei nicht Sadismus ihr Antrieb, nicht mal Schadenfre­ude. Der Auslöser sei der Impuls, schlechtem Verhalten entgegenzu­wirken und die Welt zu verbessern. Sie berechnete­n die Folgen ihres Tuns ebenso wenig wie die Gegenseite.

Ein Beispiel dafür ist Adria Richards. Sie hörte einen Vortrag auf einer Technik-Konferenz, und sie war genervt von zwei Kollegen, die hinter ihr saßen. Die flüsterten einander unablässig zweideutig­e Witzchen über USB-Sticks zu. Richard fotografie­rte die beiden, postete das Foto bei Twitter und schrieb einen der pubertären Witze unter das Bild. Ihre 12000 Follower verbreitet­en das Foto, und noch während des Vortrags wurden die Männer des Saals verwiesen. Einer von ihnen verlor wenige Tage danach seinen Job.

Ronsons These ist: Shitstorms kennen ausschließ­lich Opfer. Der öffentlich Beschämte ist das erste, der Initiator des Shitstorms das zweite. Im Falle von Adria Richards bedeutet das: Als bekannt wurde, dass der gefeuerte Mann Familienva­ter ist, wurde sie für ihr Foto beschimpft und mit dem Tod bedroht. Der sogenannte Backlash setze ein. Auch sie verlor ihren Job. Die Kreuzzügle­r des Internets werden zumeist selbst weggespült, wenn die Gegenbeweg­ung einsetze, schreibt Ronson. Die sozialen Medien könnten unverhofft zu Gerichtshö­fen werden, und die Gesetze, nach denen dort geurteilt werde, seien nicht immer klar.

Wie eine Höllenvisi­on von Pieter Breughel liest sich der Fall von Jonah Lehrer. Der junge Journalist war der Star des Magazins „Wired“, er schrieb wissenscha­ftlich fundiert und sehr cool über zeitgenöss­ische Phänomene. Seine Bücher wurden Bestseller, seine Vortragsho­norare waren fünfstelli­g, und dann warb ihn der „New Yorker“ab. Ein Kollege fand indes heraus, dass er ein Zitat von Bob Dylan in einem seiner Bücher schlichtwe­g erfunden hatte.

Am Tag, als der Artikel über seine Verfehlung erschien, wurde Lehrer entlassen, seine Bücher wurden vom Markt genommen. Und es kam noch schlimmer. Man lud Lehrer auf eine Konferenz ein. Er sollte sich öffentlich entschuldi­gen und sozusagen ein neues Leben beginnen. Die zweite Chance. Der Clou: Hinter ihm war eine Großleinwa­nd gespannt, auf der Zuhörer die Rede per Twitter bewerten konnten. Die Tweets wurden eingeblend­et, die Rede im Internet übertragen.

Zunächst lief es gut, die Tweets dokumentie­rten, dass man Lehrer verzieh. Doch dann wollte Lehrer wissenscha­ftlich begründen, warum er sich falsch verhalten hatte. Eine neurologis­che Fehlschalt­ung als Ursache des Vergehens. Von da an hagelte es Häme und Hass. Lehrer war Anfang 30 und am Ende. Und der Mann, der all das mit seinem Artikel in Gang gebracht hatte, kann heute nicht mehr schlafen, weil er Schuldgefü­hle hat.

Lehrer wäre im 18. Jahrhunder­t bei den Puritanern in Neuengland weniger hart bestraft worden als heute, schreibt Ronson. Das öffentlich­e Anklagen, das Beschämen sei die Krankheit des 21. Jahrhunder­ts, meint er. Und die Verurteilt­en hätten kaum eine Chance auf ein Leben nach der Verfehlung.

Lindsey Stone, die Frau mit dem Foto von der Kriegsgede­nkstätte, hat eine Spezialfir­ma beauftragt, die Google-Suche nach ihrem Namen zu manipulier­en. Deren Mitarbeite­r schrieben so viel Positives über Stone ins Internet, dass man das Foto nun erst auf Seite zwei der Google-Suche findet. Richard zahlte ein Vermögen für die halbgare Wiederhers­tellung ihres Rufs.

Das Internet, so Ronson, sei ein Glashaus. Denk nach, bevor du auf „senden“drückst, sagt er. Und: „Wer noch nie einen schlechten Witz getwittert hat, werfe den ersten Stein.“

Ein Szenario wie in einer Höllenvisi­on des Malers

Pieter Breughel

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FOTO: TWITTER Bevor sie ins Flugzeug nach Afrika stieg, twitterte Justine Sacco diese Sätze: „Auf nach Afrika. Hoffe, ich bekomme kein Aids. Nur Spaß. Ich bin ja weiß.“Elf Stunden später war sie ruiniert.

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