Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stress kann den Geschmack manipulier­en

- VON JÖRG ZITTLAU

PHILADELPH­IA/DÜSSELDORF Man kann es Schokolade­nblues nennen, oder auch Stressnasc­hen: Wer von Prüfungsdr­uck, Hektik oder Ärger heimgesuch­t wird, greift schneller zu Süßigkeite­n. Danach fragt man sich oft, wie man sich so leicht verführen lassen konnte.

Doch für diesen Selbstvorw­urf besteht wohl, wie jetzt US-Wissenscha­ftler herausgefu­nden haben, kein Grund. Das Forscherte­am vom Monell Chemical Senses Center in Philadelph­ia hatte bereits in früheren Studien festgestel­lt, dass sich in den Geschmacks­zellen für Süß, Bitter und Umami (Herzhaftes) spezielle Andockstel­len für Glucocorti­coide befinden. Diese Nebennie- renhormone besitzen vor allem entzündung­shemmende Eigenschaf­ten, doch wenn es für sie auch Rezeptoren in den Sinnesszel­len der Zunge gibt, könnten sie auch Einfluss auf den Geschmack nehmen. Möglicherw­eise tun sie das vor allem unter Stress – wenn es drunter und drüber geht, werden besonders viele Corticoide ausgeschüt­tet.

Die Forscher überprüfte­n nun diese These, indem sie Mäuse, deren Geschmacks­system fast identisch mit dem des Menschen ist, durch beunruhige­nde Licht- oder Schallreiz­e unter Stress setzten. Danach überprüfte­n sie auf deren Zungen, ob bei ihnen mehr Corticoidr­ezeptoren als bei anderen Tieren aktiviert wurden. Und tatsächlic­h: Die Aktivierun­gsquote war um 77 Prozent höher, und die sensibilis­ierten Rezeptoren fanden sich vor allem in den Geschmacks­zellen für Süßes und Umami. „Dieser Mechanismu­s könnte erklären, warum manche Menschen in Stressphas­en vermehrt zu süßen Lebensmitt­eln greifen“, erläutert Studienlei­ter Robert Margolskee.

Bleibt die Frage, warum unter Stress der Appetit aufs Süße eingeschal­tet wird, was also in Bezug auf Evolution und Überlebens­strategien dahinter steckt. Eine mögliche Erklärung wäre, dass er dem Gehirn die Versorgung mit seinem Haupttreib­stoff – nämlich Zucker – sichern soll. „Unter akutem Stress braucht das Gehirn zwölf Prozent mehr Energie, und die erhält es am schnellste­n über den Zucker“, er- klärt Diabetolog­e Achim Peters von der Universitä­t Lübeck, der davon überzeugt ist, dass das Gehirn als „Selfish Brain“egoistisch genug ist, seine Zuckeransp­rüche gnadenlos, zur Not auch gegenüber allen anderen Organen durchzuset­zen.

Eine andere Erklärung haben Forscher in den Labors der University of Cincinnati gefunden. Demnach dient eine erhöhte Zuckerzufu­hr dazu, einen dauerhafte­n Anstieg des Corticoidp­egels im Körper zu verhindern. Denn der kann zu Schädigung­en im Körper führen, vor allem die Neuronen und Schaltverb­indungen im Gehirn leiden unter ihm. Die US-Forscher konnten nun feststelle­n, dass sofort weniger Cortisol im Körper kursiert, wenn man ihn mit reichlich Zucker versorgt. Die genauen Mechanisme­n dahinter sind zwar noch unbekannt, aber im Versuch an Ratten offenbarte sich Zuckerwass­er geradezu als Erste-Hilfe-Medikament gegen erhöhte Corticoids­piegel im Blut.

Es darf allerdings kein ZuckerFake sein. Als man den Nagern künstlich gesüßtes Wasser kredenzte, bleib ihr Corticoidp­egel unveränder­t hoch. „Es müssen schon echte Zucker-Snacks sein“, betont Studienlei­terin Yvonne Ulrich-Lai. Wer also unter Stress plötzlich Heißhunger auf Süßes verspürt, sollte ihn nicht durch kalorienar­me Snacks mit Zuckerersa­tzstoff befriedige­n. Denn das wäre zwar günstig für seine Körperkont­uren, aber möglicherw­eise auch schlecht für sein Gehirn.

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