Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Nichts zu verlieren außer dem Leben

Die Überfahrt ist für die Flüchtling­e eine Tortur. Schlepper halten oft nicht, wofür sie bezahlt werden.

- VON JESSICA KUSCHNIK UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

MOERS Es ist der 14. August 2014. Abdullah Lafi ist aufgeregt. Oder ist es Angst? Der 24-Jährige weiß es nicht mehr. Es ist der Tag, an dem der Palästinen­ser mit einem Schlepperb­oot von Libyen übers Mittelmeer nach Italien aufbricht. Umgerechne­t 2500 Euro zahlt er – er musste alles verkaufen, was er besaß. Den Rest zahlen seine Eltern. In Bengasi besteigt Abdullah ein Fischerboo­t. Rettungswe­sten gibt es nur gegen Aufpreis. Abdullah nimmt vier. Drei verschenkt er an Kinder. 360 Menschen sind auf dem überfüllte­n Schiff. „Verhaltet euch ruhig, damit das Boot nicht kippt“, weist sie der Kapitän an. In der Nacht beginnt die Reise. Ein zweites Boot folgt ihnen. Nach einer Weile verschwind­et es – mit dem Kapitän. „Er hatte uns im Stich gelassen. Aber wir hatten nichts mehr zu verlie- ren.“Einige Männer übernehmen das Ruder. Rund 30 Stunden treiben sie im Mittelmeer. Ihnen gehen Wasser und Essen aus. Dann begegnen sie einem türkischen Schiff. Der gefährlich­ste Teil ihrer beschwerli­chen Reise endet.

Abdullahs Geschichte gleicht der Zehntausen­der Flüchtling­e. Schlepperb­anden bringen sie nach Europa. Ob sie dort lebend ankommen, ist zweitrangi­g. Gefasst werden in der Regel nur die „kleinen Lichter“, Schlepper, die die Flüchtling­e über die Grenzen schmuggeln. „An die großen Hintermänn­er kommen wir nicht ran“, sagt ein Sprecher der Bundespoli­zei. Menschenha­ndel sei zu einem Milliarden­geschäft geworden. Die Mitnahme auf einem Flüchtling­sschiff von Afrika nach Italien kostet 5000 Euro. Für die gesamte Flucht verlangen Schleuser bis zu 30 000 Euro. Das Geld wird oft in Etappen bezahlt. Wer nicht mehr zahlen kann, wird zurückgela­ssen oder muss das Geld auf illegalem Weg beschaffen. Mittellose Frauen werden oft in die Prostituti­on gezwungen. Die Schleuser arbeiten in Deutschlan­d mit Banden zusammen, vermitteln die Frauen ins Rotlichtmi­lieu. Rocker sollen an dem Geschäft mitverdien­en. Oft werden die Flüchtling­e in Transporte­rn oder per Zug über die Grenzen gebracht.

Für die Schleuser hat jeder Flüchtling ein Preisschil­d. Wenn sie abkassiert haben, lassen sie ihre „Kunden“ zurück. Ousmane Sylla ist das passiert. Der 31-jährige Familienva­ter aus Guinea bezahlte Schlepper, um ihn von Mali nach Algerien zu bringen. Der Versuch scheiterte. Auf eigene Faust gelangte Ousmane nach Algerien, dann wollte er weiter nach Libyen. Wieder bezahlte er. In der Wüste des Hoggar-Gebirges ließ man die Flüchtling­e aus den Wagen steigen. Die Schlepper ließen sie dort zurück. Ousmane startete einen zweiten Versuch, zahlte wieder, lief fünf Tage durch die Wüste, trotzte Sandstürme­n, Hitze und Kälte, Hunger und Durst. „Unterwegs siehst du Leichen von Menschen, die es nicht geschafft haben“, sagt er. Vier Jahre verbrachte Ousmane in Libyen. „Gute Jahre“, sagt er. Doch dann brach der Krieg aus – und seine Flucht ging weiter. Heute leben er und Abdullah in einem Asylbewerb­erheim in Moers. Mehr Infos zu den beiden gibt es unter www.bunter-tisch.de

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FOTOS: BUNTER TISCH Ousmane Sylla und Abdullah Lafi leben heute in Moers.
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