Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Nichts zu verlieren außer dem Leben
Die Überfahrt ist für die Flüchtlinge eine Tortur. Schlepper halten oft nicht, wofür sie bezahlt werden.
MOERS Es ist der 14. August 2014. Abdullah Lafi ist aufgeregt. Oder ist es Angst? Der 24-Jährige weiß es nicht mehr. Es ist der Tag, an dem der Palästinenser mit einem Schlepperboot von Libyen übers Mittelmeer nach Italien aufbricht. Umgerechnet 2500 Euro zahlt er – er musste alles verkaufen, was er besaß. Den Rest zahlen seine Eltern. In Bengasi besteigt Abdullah ein Fischerboot. Rettungswesten gibt es nur gegen Aufpreis. Abdullah nimmt vier. Drei verschenkt er an Kinder. 360 Menschen sind auf dem überfüllten Schiff. „Verhaltet euch ruhig, damit das Boot nicht kippt“, weist sie der Kapitän an. In der Nacht beginnt die Reise. Ein zweites Boot folgt ihnen. Nach einer Weile verschwindet es – mit dem Kapitän. „Er hatte uns im Stich gelassen. Aber wir hatten nichts mehr zu verlie- ren.“Einige Männer übernehmen das Ruder. Rund 30 Stunden treiben sie im Mittelmeer. Ihnen gehen Wasser und Essen aus. Dann begegnen sie einem türkischen Schiff. Der gefährlichste Teil ihrer beschwerlichen Reise endet.
Abdullahs Geschichte gleicht der Zehntausender Flüchtlinge. Schlepperbanden bringen sie nach Europa. Ob sie dort lebend ankommen, ist zweitrangig. Gefasst werden in der Regel nur die „kleinen Lichter“, Schlepper, die die Flüchtlinge über die Grenzen schmuggeln. „An die großen Hintermänner kommen wir nicht ran“, sagt ein Sprecher der Bundespolizei. Menschenhandel sei zu einem Milliardengeschäft geworden. Die Mitnahme auf einem Flüchtlingsschiff von Afrika nach Italien kostet 5000 Euro. Für die gesamte Flucht verlangen Schleuser bis zu 30 000 Euro. Das Geld wird oft in Etappen bezahlt. Wer nicht mehr zahlen kann, wird zurückgelassen oder muss das Geld auf illegalem Weg beschaffen. Mittellose Frauen werden oft in die Prostitution gezwungen. Die Schleuser arbeiten in Deutschland mit Banden zusammen, vermitteln die Frauen ins Rotlichtmilieu. Rocker sollen an dem Geschäft mitverdienen. Oft werden die Flüchtlinge in Transportern oder per Zug über die Grenzen gebracht.
Für die Schleuser hat jeder Flüchtling ein Preisschild. Wenn sie abkassiert haben, lassen sie ihre „Kunden“ zurück. Ousmane Sylla ist das passiert. Der 31-jährige Familienvater aus Guinea bezahlte Schlepper, um ihn von Mali nach Algerien zu bringen. Der Versuch scheiterte. Auf eigene Faust gelangte Ousmane nach Algerien, dann wollte er weiter nach Libyen. Wieder bezahlte er. In der Wüste des Hoggar-Gebirges ließ man die Flüchtlinge aus den Wagen steigen. Die Schlepper ließen sie dort zurück. Ousmane startete einen zweiten Versuch, zahlte wieder, lief fünf Tage durch die Wüste, trotzte Sandstürmen, Hitze und Kälte, Hunger und Durst. „Unterwegs siehst du Leichen von Menschen, die es nicht geschafft haben“, sagt er. Vier Jahre verbrachte Ousmane in Libyen. „Gute Jahre“, sagt er. Doch dann brach der Krieg aus – und seine Flucht ging weiter. Heute leben er und Abdullah in einem Asylbewerberheim in Moers. Mehr Infos zu den beiden gibt es unter www.bunter-tisch.de