Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Der Kampf um Anbar
Der „Islamische Staat“kontrolliert mittlerweile fast die gesamte Provinz westlich von Bagdad. Seine stärkste Waffe ist die Propaganda.
FALLUDSCHA Die Straße der Oliven in Abu Ghraib ist menschenleer. Nur vor dem Gebäude der Fakultät für Landwirtschaft, einer Ausgliederung der Universität Bagdad, bewegen sich schnell eine Handvoll Studenten auf den Eingang zu. Das Fabrikgelände nebenan, das einst Iraks größte Milchproduktionsstätte war, ist ebenfalls verwaist. Gewiss haben die Einwohner Angst vor „Daesh“.
Das arabische Wort für die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) ist seit einem Jahr in aller Munde. Angst und Schrecken dominieren, seitdem die finsteren Typen das Land zwischen Euphrat und Tigris überfielen und ihren eigenen Staat ausriefen. Diesen wollen sie nun verteidigen, und es geschieht mit Brachialgewalt. „Nein, nein“, beschwichtigt ein Uniformierter am Kontrollpunkt, „es ist nicht wegen Daesh, dass kein Mensch zu sehen ist.“Der junge Mann deutet gen Himmel, wo die Sonne am Mittag im Zenit steht und am Boden fast 40 Grad im Schatten verursacht.
Abu Ghraib ist die erste Stadt der Provinz Anbar, wenn man von Bagdad aus Richtung Westen fährt. Mehrere Male ist sie vom IS angegriffen worden. Immer war das berüchtigte Gefängnis das Ziel. Im Juli 2013 gelang die Befreiung von 500 Häftlingen, die zum harten Kern von Al Qaida gehörten. Zunächst seien sie nach Syrien entwichen, berichten Einwohner von Falludscha. Dort seien sie in die Kommandostrukturen von Daesh integriert worden und kamen Anfang vergangenen Jahres zurück in ihre Heimat. Falludscha ist bereits seit Anfang 2014 in der Hand des IS. Die vor zwei Tagen gestartete Offensive soll nun auch die Provinzhauptstadt Ramadi unter seine Kontrolle bringen.
Um zu Brigadegeneral Ali Abdul Hussein Khadim zu gelangen, müssen elf Kontrollpunkte passiert werden, obwohl sein Hauptquartier nur knapp 50 Kilometer von Bagdad entfernt liegt. Weitere 30 Kilometer sind es nach Ramadi. Seit Sonntagabend weht dort die schwarze ISFahne auf dem Gouverneurspalast. Es scheint, als wolle der IS Rache üben für die Vertreibung aus Tikrit Ende März.
Schon von Anfang an war Iraks größte Provinz Anbar eine Hochburg des IS gewesen. Schätzungen zufolge kontrollierte die Terrorgruppe zwischen 60 und 80 Prozent des Territoriums. Jetzt aber sollen 90 Prozent in ihrer Hand sein. Lediglich Abu Ghraib ist noch verschont geblieben. Am Montagmorgen hat Iraks Premier Haider al Abadi den Befehl gegeben, Schiitenmilizen zum Kampf um Ramadi zu entsenden. Am Mittag sind die Checkpoints schon gemischt besetzt. Sunniten und Schiiten versehen gemeinsam Dienst. Das war ursprünglich so nicht vorgesehen, denn in der mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinz Anbar sind die Schiiten nicht gern gesehen. Das hängt mit dem ehemaligen schiitischen Regierungschef Nuri al Maliki zusammen, der seine sunnitischen Landsleute immer mehr vom politischen Prozess ausschloss und sogar die Armee zuvorderst mit Schiiten besetzte. Die über ein Jahr dauernden friedlichen Proteste wurden ignoriert, ihre Forderungen in den Wind geschossen.
Schließlich verbündeten sich die sunnitischen Kräfte in Anbar mit den Radikalen von Daesh gegen die Regierung in Bagdad. Der Kampf um Anbar wurde zur sunnitischen Sache erklärt. Doch die Lage ist so ernst, dass der Premier nun alle verfügbaren Kräfte einsetzen will.
Allerdings scheint er sich der Brisanz seiner Entscheidung bewusst zu sein. Um den religiösen Konflikt nicht noch einmal aufflammen zu lassen, wurden in Abu Ghraib und anderswo in der Provinz große Plakate aufgestellt, die die Einwohner auf die Präsenz der Schiitenmilizen vorbereiten: „Wir dienen allen Irakern“, verkünden die schiitischen Geistlichen, Großajatollah Ali al Sistani und Sayed Ammar al Hakim.
Zurück in Anbar kommt der Brigadegeneral von einer Inspektion des Frontabschnitts zurück, den er zu verantworten hat. Germa liegt fünf Kilometer von Falludscha ent- fernt. Alles, was dahinter liegt, ist Daesh-Land. Es sei ruhig, berichtet der 46 Jahre alte Brigadekommandeur der irakischen Armee und setzt kurz sein purpurrotes Barett ab. Darunter erscheint ein kahlgeschorener Schädel. Nur in der Mitte ist ein Streifen Haare zurückgeblieben. „Es ist praktischer so“, sagt er müde, „da draußen ist es noch ziemlich heiß.“Während in seinem Büro die Klimaanlagen surren, knallt die Sonne auf die Gartenidylle, die sich der Kommandeur und seine Offiziere geschaffen haben. Vögel zwitschern im offenen Käfig, zwei Strauße laufen stolz umher, Katzen streunen, ein Hahn kräht am helllichten Tag. Die Surrealität des Krieges ist auf diesen wenigen Quadratmetern versammelt.
Ali Abdul Hussein Khadim kommandiert die Al-Muthanna-Brigade, eine der fünf Armeeeinheiten, die zum Schutz der Hauptstadt rings um Bagdad stationiert sind. Von allen Verteidigern der Hauptstadt hat er den schwierigsten Job. Sein Gebiet reicht vom Stadtrand Bagdads (Amiria) bis nach Germa, einem Vorort von Falludscha, wo die Frontlinie mit dem IS verläuft. Alles in allem seien die Kampfaktionen des IS militärisch jedoch schwach, meint Khadim. Die Propaganda sei das Stärkste, was sie zu bieten hätten. Damit sei auch das wiederholte Weglaufen von Soldaten der irakischen Armee zu erklären, was jetzt in Ramadi erneut geschah. Gerüchte hätten sich verbreitet, dass 10000 IS-Kämpfer von Syrien herüberkämen. Da sahen sich die knapp Tausend irakischen Soldaten wehrlos und liefen weg. Khadim spricht auch von Chlorgas, das der IS zum Einsatz bringe.
Den Gegner kleinzureden, ist Taktik und stärkt die Moral der Truppe. Denn schätzungsweise die Hälfte der Soldaten der irakischen Armee ist mittlerweile desertiert, wie man an Kadhims Truppenstärke erkennt. Die Brigade besteht aus 3462 Soldaten der irakischen Armee und 3186 schiitischen Freiwilligen, die gegen die sunnitische Terrororganisation kämpfen wollen.
Auf der Fahrt zurück nach Bagdad fällt die Militärbasis Habanija auf. Dort hätten am Montagmittag junge Rekruten vereidigt werden sollen. Die Zeremonie ist aber dem Kampf um Ramadi zum Opfer gefallen.