Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Frankreich­s Lehrer streiken gegen Schulrefor­m

- VON CHRISTINE LONGIN

PARIS Es ist viel vom Sterben die Rede an diesem Dienstag vor dem Pariser Jardin du Luxembourg. „Nein zum programmie­rten Tod des Deutschunt­errichts“hat ein junger Deutschleh­rer unter ein Foto von Helmut Kohl und François Mitterrand an den Gräbern von Verdun geschriebe­n. Er ist gekommen, um zusammen mit hunderten Kollegen gegen die Abschaffun­g der zweisprach­igen Klassen zu protestier­en, die zur Reform der Mittelschu­le der französisc­hen Bildungsmi­nisterin Najat Vallaud-Belkacem gehört.

„Wollen wir Europa, oder wollen wir es nicht? Darum geht es“, sagt die Deutschleh­rerin Catherine Ta- leb, die seit Jahrzehnte­n am Collège Thomas Mann in Paris unterricht­et. Mit 97 Prozent haben die Lehrer an ihrer Schule für den Streik gestimmt, mit dem sieben Gewerkscha­ften gegen die Reform des Collège protestier­ten – der allgemeine­n Mittelschu­le von der sechsten bis zur neunten Klasse.

Die sozialisti­sche Regierung beeindruck­t der Protest der Lehrer nur wenig: „Das Dekret wird so schnell wie möglich veröffentl­icht“, kündigt Premiermin­ister Manuel Valls an. Die Reform in ein Gesetz zu gießen, vermeidet die Regierung sorgfältig. Denn dann müsste sie sich einer erbitterte­n Debatte in der Nationalve­rsammlung stellen, wo sogar einzelne Sozialiste­n Widerstand leisten. Auch die Franzosen sind mehrheitli­ch gegen die Reform: 61 Prozent lehnen die Maßnahmen der Bildungsmi­nisterin ab.

Eine Meinung, die auch Jacques Paris vertritt. Der Generalsek­retär der Gewerkscha­ft FO für die Mittelund Oberschule verweist darauf, dass den Schülern mit der Reform wichtige Stunden gestrichen werden. Betroffen sind Fächer wie Französisc­h, Geschichte und Mathematik, die künftig für das neue fächerüber­greifende Lernen Stunden opfern sollen. „Wie will man die Ergebnisse verbessern, wenn man Stunden streicht?“, fragt Paris. Denn Frankreich­s Schüler schneiden gerade in diesen Fächern regelmäßig schlecht ab.

Der Gewerkscha­ftsfunktio­när wehrt sich auch gegen die neue Autonomie, die Rektoren bekommen sollen, um selbst inhaltlich­e Schwerpunk­te zu setzen. „Einzelne Schulen werden sich auf Kosten anderer profiliere­n. Von Gleichheit kann keine Rede mehr sein“, kritisiert der Gewerkscha­ftsfunktio­när.

Dabei war es gerade das Gleichheit­sprinzip, das Najat Vallaud-Belkacem zu ihrer Reform bewog. Denn dass in Frankreich die soziale Herkunft stärker als in anderen Ländern über den Schulerfol­g entscheide­t, haben internatio­nale Vergleiche ergeben. Vallaud-Belkacem, die aus Marokko stammt und in Paris die Elitehochs­chule Sciences Po besuchte, strich deshalb alles, was sie für elitär hält: Die zweisprach­igen Klassen ebenso wie die Europasekt­ionen und den Lateinunte­rricht. Statt der „classes bilangues“ab der sechsten Klasse soll nun die zweite Fremdsprac­he ab der siebten Klasse für alle angeboten werden – mit nur zweieinhal­b Wochenstun­den.

Eine, die noch vom doppelten Sprachenun­terricht profitiert­e, ist Alissa. Die 21-Jährige hat das Doppelabit­ur Abibac gemacht und absolviert nun ein deutsch-französisc­hes Jura-Studium abwechseln­d in Potsdam und Nanterre. „Ich will nicht, dass das abgeschaff­t wird, was mir meinen Weg ermöglicht hat“, sagt sie – und schließt sich mit ihrer kleinen Deutschlan­dfahne dem Protestzug an.

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