Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wie sicher sind Juden in Deutschlan­d?

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN 7000 Juden haben Frankreich im vergangene­n Jahr den Rücken gekehrt, weil sie sich in Europa nicht mehr sicher fühlten. Die Stimmung hat sich im Nachbarlan­d weiter verschlech­tert, seit ein Islamist einen jüdischen Supermarkt überfiel und vier Menschen tötete. Aber auch in Deutschlan­d steckt vielen Juden der massive Antisemiti­smus noch in den Knochen, der vor einem Jahr vor dem Hintergrun­d der blutigen Auseinande­rsetzungen zwischen Israelis und Palästinen­sern um sich griff. Wie sicher sind Juden in Deutschlan­d heute?

„Sehr hart“arbeite der Staat daran, jüdisches Leben in Deutschlan­d so sicher wie möglich zu machen, sagt Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU). Dennoch muss er einräumen, dass die Zahl antisemiti­scher Straftaten in Deutschlan­d innerhalb eines Jahres um 25 Prozent zugenommen hat. „Dieser Anstieg ist massiv, und er ist besorgnise­rregend“, stellt der Minister fest. Aber ist es ein Problem allein mit extremisti­schen Gewalttäte­rn?

Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­es der Juden in Deutschlan­d, verweist auf andere Zahlen: 20 Prozent der Bevölkerun­g in Deutschlan­d sei laut einschlägi­gen Studien latent antisemiti­sch eingestell­t. „Das sind 16 Millionen Menschen“, rechnet Schuster vor – und setzt diese Zahl ins Verhältnis zu den 100 000 Juden in Deutschlan­d. „Das sind 0,128 Prozent.“Er hat auch 70 Jahre nach dem Holocaust noch keine Antwort auf eine zentrale Frage gefunden: „Wie konnte der Antisemiti­smus Auschwitz überleben?“Heute betrachtet­en zwei Drittel der Juden „Antisemiti­smus als Problem in ihrem Land“.

Bei einem Kongress über jüdisches Leben in Deutschlan­d macht Unionsfrak­tionschef Volker Kauder auf eine prekäre Entwicklun­g in deutschen Schulen aufmerksam. Auf den Schulhöfen seien „Schwuler“und „Jude“zu Schimpfwör­tern geworden. Der frühere Neuköllner Bezirksbür­germeister Heinz Buschkowsk­y berichtet, dass jüdische Lehrer vorsichtsh­alber ihren Glauben verheimlic­hten. Besonders wenn sie es mit Migranten aus arabischen Ländern zu tun hätten. Diese hätten den Judenhass „mitgebrach­t“.

Gibt es also einen importiert­en Antisemiti­smus? Lisa Scheremet, Lehrerin an einer Hauptschul­e in Niedersach­sen, bejaht das nicht nur, sie findet es geradezu „unglaublic­h“, welche Ausmaße dieses Phänomen bereits angenommen habe. Da bekunde ein Elfjährige­r an ihrer Schule: „Ich hasse Angela Merkel, weil die Geld an Israel gibt und damit Palästinen­ser getötet werden.“Diese Weltsicht erklärt den Export antiisrael­ischer Reflexe. Aber sie erklärt nicht, warum Juden in Deutschlan­d für die Handlungen eines Staates 4000 Kilometer entfernt verantwort­lich gemacht werden, warum hier Slogans auftauchen, die an die finsterste­n Zeiten des Genozids anknüpfen: „Hamas, Hamas, Juden ins Gas.“

Die Gewalt ist zudem auch unabhängig von aktuellen Geschehnis­sen in Israel präsent. Vor zwei Jahren wurde in Berlin der Rabbiner Daniel Alter von arabisch wirkenden Tätern vor den Augen seiner Tochter zusammenge­schlagen – weil er eine Kippa trug, also eine jüdische Kopfbedeck­ung. Seitdem tritt er mit ihr nur noch in geschützte­n Räumen in Erscheinun­g. Auf der Straße verbirgt er sie unter einer Basecap. In „problemati­schen“Stadtbezir­ken verzichte er ganz darauf.

Kauder kritisiert die Mentalität in Schulleitu­ngen und Schulverwa­ltungen, über das wachsende Problem hinwegzuse­hen. Es reiche auch nicht, die antisemiti­schen Beleidigun­gen und Angriffe auch nur verbal auszugrenz­en. Wer sie nicht akzeptiere, der müsse auch Konsequenz­en ziehen – etwa Schulverwe­ise für aggressive Antisemite­n.

Vom Schulhof zum Islamismus: De Maizière verweist auf die antisemiti-

Josef Schuster schen Parolen in der salafistis­chen Propaganda – und darauf, dass in der jüngeren Vergangenh­eit eine „immer größer werdende Dynamik des salafistis­chen Personensp­ektrums“zu beobachten sei, und zwar „überall in Europa“. Zudem hinterfrag­t der Minister die Prävention­sprogramme. Diese sollten verhindern, dass junge Menschen zu Antisemite­n werden. De Maizière ist sich jedoch nicht sicher, ob das die richtigen Antworten in einer Situation seien, in der man es bereits mit Antisemite­n zu tun habe. „Null Toleranz“lautet seine Schlussfol­gerung.

Schuster greift diese Forderung nur zu gerne auf. Er sieht jedoch nicht nur Politik und Polizei in der Pflicht: „Die emotionale Sicherheit muss aus der Zivilgesel­lschaft geschaffen werden.“Schuster selbst will nicht den Warner geben, hinter die Worte „jüdisches Leben in Deutschlan­d“kein Fragezeich­en, sondern immer nur ein Ausrufezei­chen setzen. Aber er bestätigt natürlich, dass in jüdischen Gemeinden über die Frage gesprochen werde, wie sicher man als Jude in Deutschlan­d noch sei.

Eine Ausreisewe­lle wie in Frankreich ist in Deutschlan­d nicht zu registrier­en. Und eine in diesem Zusammenha­ng gute Botschaft hat Schuster auch aus einer Umfrage mitgebrach­t. Unter den Juden, die einen Wechsel nach Israel in Betracht zögen, wolle mehr als die Hälfte das „aus zionistisc­hen Gründen“. Die Motivation liegt hier also nicht darin, aus Deutschlan­d weg-, sondern in Israel anzukommen.

Für Schuster ist die Prognose für jüdisches Leben in Deutschlan­d umso günstiger, je früher Ursachen und Symptome bekämpft werden. Das fange bei einem NPD-Verbot an, müsse aber weiter gehen. Keinen Ort in Deutschlan­d dürfe man zu einem braunen Sumpf werden lassen, und auch die Linken sollten mit mancher ihrer Kritik „sensibler“umgehen. De Maizières will am liebsten in einem Land leben, in dem jüdische Kinder unbesorgt aufwachsen können, ohne dass jüdische Einrichtun­gen geschützt werden müssen. Dieser Wunsch scheint auf lange Sicht unerfüllba­r zu sein.

„Die emotionale Sicherheit muss aus der

Zivilgesel­lschaft geschaffen werden“

Präsident des Zentralrat­es der Juden

Newspapers in German

Newspapers from Germany