Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Jagd auf die Frau mit Buch
Gesucht wird ein Bild, das in der NS-Zeit mehr als 30 Menschen das Leben rettete und seit fast acht Jahrzehnten verschollen ist. Das Recherche-Startup „Follow the Money“hat die multimediale Aktion initiiert.
PORTLAND/OREGON Wenn die Familie Engelberg sich bei Großvater Edward in Portland (Oregon) versammelt, sitzen alle im Wohnzimmer und blicken auf ein Gemälde, das sie nur „unsere Mona Lisa“nennen. Es zeigt das Portrait einer Frau, die ein Buch hält. Eigentlich müssten dort zwei Gemälde aus derselben Serie hängen. Das zweite ist eine leichte Variation des ersten. Doch dieses zweite Bild befindet sich nicht mehr im Besitz der Familie. Es ist der Grund, dass die vier Generationen der Engelbergs überhaupt am Leben sind – mehr als 30 Menschen.
München 1938: Am Morgen nach der Reichspogromnacht kommt die Gestapo, um den jüdischen Kaufmann Jakob Engelberg zu verhaften. Die Beamten verschleppen ihn ins KZ Dachau. Zwei Wochen nach der Verhaftung ihres Mannes nimmt Paula Engelberg eines der beiden Gemälde von der Wand und verlässt die Wohnung. Am selben Tag kommt sie mit einem Visum für die Schweiz zurück. Damit erreicht sie bei der Gestapo, dass ihr Mann aus dem KZ freikommt.
Mit ihren Kindern fliehen die Engelbergs über die Schweiz in die Vereinigten Staaten. Sie sind in Sicherheit. Doch was wurde aus dem lebenrettenden Gemälde? Wo steckt es heute, fast 80 Jahre später? Das wollen wir in einer Gemeinschaftsaktion des Recherche-Startups „Follow the Money“mit der Rheinischen Post, dem Bayerischen Rundfunk, dem Schweizer Radio und Fernsehen, dem Österreichischen Rundfunk, dem „Standard“, dem Deutschlandradio Kultur und der Süddeutschen Zeitung herausfinden.
Schöpfer des gesuchten Gemäldes ist der deutsch-jüdische Maler Otto Theodor W. Stein, 1877 geboren im böhmischen Saaz, 1958 gestorben in Friedland. Er zählte zu den Malern, die in Deutschland erfolgreich waren, bis die Nationalsozialisten kamen und ihre Werke zerstörten oder raubten. Bilder von Stein finden sich auch auf Auktionsplattformen im Internet, etwa bei dem Düsseldorfer Auktionator Hargesheimer.
Das Gemälde der Engelbergs steht stellvertretend für Millionen anderer Kunstgegenstände, die während des Nationalsozialismus unter Druck oder durch Raub den Besitzer wechselten. Und damit für den Themenkomplex Raub- oder Fluchtkunst, der spätestens mit dem Fall Gurlitt neue Beachtung gefunden hat. „Follow the Money“ sieht das Schicksal der Engelbergs und ihres Bildes als Möglichkeit, den vermeintlich weit zurückliegenden größten Kunstraub der Geschichte zu personalisieren und klarzumachen: Die Bilder sind unter uns!
Das Team von „Follow the Money“wird sich nun in den nächsten sechs bis acht Wochen an die histo- rischen Orte begeben und der Spur des Gemäldes ebenso folgen wie der Spur des Visums. Jede Woche wird es auf www.kunstjagd.com eine Episode seiner Podcast-Serie und einen kurzen Film über die Fortschritte veröffentlichen.
Auch in der Rheinischen Post werden wir den Fall verfolgen – mit Berichten, die über die Einzel- schicksale hinaus das Thema NSRaubkunst aufgreifen.
Die „Mona Lisa“der Familie Engelberg trägt übrigens in Wirklichkeit die schlichte Bezeichnung „Frau auf einem Stuhl“– wie auch das noch im Familienbesitz befindliche Schwesterbild aus der Serie, das wir auf dieser Seite reproduzieren.