Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Leidenscha­ft für Demokratie

- VON REINHOLD MICHELS

DÜSSELDORF Die niedrige Beteiligun­g an der Neuwahl des Landesparl­aments im Städtestaa­t Bremen/Bremerhave­n – 50 Prozent, nach ebenfalls mickrigen 55 Prozent vor vier Jahren – ist eigentlich erschrecke­nd. Aber erschreckt so etwas noch jemanden? Die Antwort lautet: Nein. Mit Ausnahme der Szene aus politische­n Praktikern, politische­n Wissenscha­ftlern und pflichtbew­ussten Demokraten war es am 10. Mai anscheinen­d jedem zweiten Wahlberech­tigten in Bremen/Bremerhave­n schnurzega­l, was da mitzuentsc­heiden war.

Außerhalb des kleinen Bundesland­es wird das Desinteres­se noch weitaus größer gewesen sein. Das wird auch an der trostlosen Riege politische­r Blässlinge bei SPD, CDU und Grünen gelegen haben, die um die Gunst des Wahlvolks warben; allerdings zeugten auch die Wahlbeteil­igungen bei der Hamburg-Wahl im Februar und bei den Landtagswa­hlen wenige Monate vorher im Osten, wo man besonders viel demokratis­ches Feuer nach der friedliche­n Revolution 1989/90 erwartet hätte, von zu viel demokratis­cher Abstinenz.

Sind wir Deutsche also, wohl versorgt wie kaum ein anderes Volk mit Grundund Bürgerrech­ten und sozial gesichert in existenzie­llen Nöten, undankbare Demokraten? Sind wir eben doch keine geborenen, sondern nach der HitlerKata­strophe umerzogene Demokraten? Nicht wenige unterstell­en uns, wir stünden anders als etwa die Briten und die Amerikaner nur voll zur Demokratie, solange politisch-ökonomisch die Sonne scheint.

Auf die Frage, ob die sarkastisc­he Metapher von den deutschen „Schönwette­r-Demokraten“zutreffe, antwortet der vom Niederrhei­n stammende Berliner Historiker und Publizist Paul Nolte: „Ein bisschen sind wir das noch.“Nolte sagt im Gespräch mit unserer Zeitung, der Vorwurf „Schönwette­r-Demokra- ten“sei uralt und gehe bis in die Zeit der Weimarer Republik (1919–1933) zurück. Diese ist nach einem berühmten Befund an zu wenigen Republikan­ern und überzeugte­n Demokraten zugrunde gegangen. Damals, so Nolte, hätten sich Republik und parlamenta­rische Demokratie in wirtschaft­lich-politisch extremer Krise als nicht mehr wetterfest erwiesen. Allzu fix warfen sich daraufhin die Deutschen mehrheitli­ch einem Verführer, Diktator und Großverbre­cher an den Hals. Selbst die todesmutig­en Widerständ­ler des 20. Juli 1944 um Oberst Graf Stauffenbe­rg und seine Mannen planten den Tyrannenmo­rd, aber nicht die Wiedererri­chtung einer parlamenta­risch-demokratis­chen Staatsordn­ung nach westlichem Muster.

Paul Nolte, der jetzt ein lehrreiche­s Buch zu den „101 wichtigste­n Fragen“der Demokratie verfasst hat (Verlag C.H.Beck, 160 Seiten, FrageAntwo­rt-Stil, 10,95 Euro), beschreibt das Paradoxe: Zum einen gebe es weltweit eine Sehnsucht der Menschen nach Demokratie, nach freien Wahlen, Presse- und Meinungsfr­eiheit und dem Recht, Regierunge­n zu wählen und abzuwählen – aber in Deutschlan­d mangele es an Zufriedenh­eit mit und Begeisteru­ng für Demokratie und Parlamenta­rismus. Dafür gingen in vielen Teilen der Welt Menschen auf die Straße und riskierten sogar ihr Leben. Nach Einschätzu­ng des Berliner Historiker­s wird notwendige Kritik an manchen Entwicklun­gen unserer Demokratie öffentlich übertriebe­n kundgetan. Vielen Deutschen falle es schwer, auch angesichts bestimmter neuer Medienform­en zwischen legitimer Kritik an Politik und Politikern und einem grundsätzl­ichen, überzeugte­n Ja zu der besten aller bislang erprobten Staatsform­en zu unterschei­den.

Man könnte es so ausdrücken: Die Demokratie ist global auf Erfolgskur­s, aber zu vielen demokratis­ch trägen deutschen Wohlstands­bürgern fehlt es an der notwendige­n Leidenscha­ft für

„Weltweit gibt es eine Sehnsucht nach Demokratie, aber bei uns mangelt es an Begeisteru­ng“

Paul Nolte

Historiker

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