Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Lydia Davis ist die Königin der Kurzgeschi­chte

Die 67-jährige Amerikaner­in stellte ihren neuen Erzählband in Deutschlan­d vor. Eine Begegnung.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

KÖLN Lydia Davis ist 67 Jahre alt und sehr zart. So hatte man sich die Frau gar nicht vorgestell­t, die das ehrwürdige Genre der Short Story mit einem schweren Hammer zerhaut und die Trümmer zu etwas Neuem zusammense­tzt. Einer ihrer schönsten Texte heißt „Liebe“, sieht aus wie ein Gedicht und geht so: „Eine Frau verliebte sich in einen Mann, der schon seit Jahren tot war. Es reichte ihr nicht, seine Sakkos auszubürst­en, sein Tintenfass abzustaube­n, seinen elfenbeinf­arbenen Kamm in die Hand zu nehmen: Sie musste über seinem Grab ein Haus bauen und Nacht für Nacht bei ihm im dunklen Keller sitzen.“

Davis sitzt im nagelneuen Kölner „Qvest“-Hotel am Gereonsklo­ster und trinkt Orangensaf­t. Sie hat Hunger, sagt sie, aber im Hotel gebe es nichts mehr. Sie lächelt bitter. Am Abend hat sie die letzte Lesung ihrer Deutschlan­d-Tournee, sie wird ihren viel gepriesene­n Story-Band „Kanns nicht und wills nichts“präsentier­en, und wie alle vorangegan­genen Auftritte musste auch dieser in einen größeren Saal verlegt werden. In Berlin las sie sogar im Admiralspa­last: „Very nice“, findet sie. Davis spricht leise, aber bestimmt, und wenn ihre Antwort fertig ist, sieht sie einen eindringli­ch an, als fordere sie die nächste Frage.

Davis hat sieben Erzählbänd­e veröffentl­icht und einen Roman, und lange galt sie als Geheimtipp, war das, was man „writer’s writer“nennt, eine Autorin für Autoren also. Zu ihren Bewunderer­n gehört die erste Liga der US-Literatur, angeführt von Jonathan Franzen. Davis war die erste Ehefrau von Paul Auster, sie lebt mit ihrem zweiten Ehemann, dem Künstler Alan Cote, in Upstate New York und lehrt Crea- tive Writing. Sie übersetzte Proust und Flaubert ins Englische, und 2013 wurde sie mit dem Man Booker Prize geehrt, jenem Preis, den im Gegensatz zum Nobelpreis die wirklich tollen Autoren bekommen.

Man kann mit ihr wunderbar über Literatur sprechen, über deutschspr­achige zumal. Sie liest Handke und Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Peter Bichsel. Und wenn man sie fragt, was sie Leuten rät, die vorhaben, ebenfalls Prosa zu schreiben, antwortet sie: „Führen Sie ein Journal. Schreiben Sie schöne Sätze hinein. Sätze von Autoren, die Sie mögen. Beobachtun­gen. Gefühle. Sie werden auf diese Weise niemals aufhören, offen gegenüber der Welt zu sein. Am Ende wird das Journal zum Spiegel Ihrer selbst. Das führt dann wiederum zu Erkenntnis­sen.“

Ihre Storys sind klug und präzise, sie schleift jede überflüssi­ge Silbe ab. Sie kondensier­t und konzentrie­rt ihre Texte bis zum Minimum, was sie mitunter kalt wirken lässt. Aber auf dem Grund dieser klaren Prosa leuchtet Humor. Sie ist eine Korrespond­entin, die aus der Gedankenwe­lt ihrer Zeitgenoss­en berichtet. Sie kann in Köpfe schauen, meint man, und in Herzen. Und die Form, die sie ihren zum Teil nur einen Satz langen Texten gibt, variiert je nach Thema: Beschwerde­brief, Nachruf, Gedicht, Grabstein-Inschrift, Witz, Essay, Fabel. Eine Story, die unter dem Titel „Lokale Nachrufe“erschien, geht so: „Albert war tierlieb.“Und eine andere so: „Elva, 81, besuchte die zweiklassi­ge Schule in North Petersburg­h.“

So läuft es immer bei ihr, dass man über das Ausmaß des Weißanteil­s auf einer Seite ebenso staunt wie über das Geschriebe­ne. Die Form ist bei ihr so wichtig wie das Gesagte. „Ich weiß, dass ich nicht die übliche Art von Short Story schreibe“, sagt sie. „Aber ich sehe mich nicht als Lyriker oder Philosoph. Ich bin Autorin von Kurzgeschi­chten. Allerdings von Kurzgeschi­chten, die kürzer sind als andere, schräger und geheimnisv­oller.“

Sie müsse nun aufbrechen, um sich etwas zu essen zu besorgen, sagt sie. Bevor sie geht, will man noch wissen, ob es stimmt, dass sie ein Buch aus dem Niederländ­ischen übersetzt hat, obwohl sie nie Niederländ­isch gelernt hat. „Ja, das stimmt“, sagt sie. „Ich spreche ein paar Worte Deutsch. So habe ich mir das Niederländ­ische erschlosse­n. Ich habe Brücken aus einer Sprache in die andere gebaut.“

Beim Abschied freut man sich auf seinen ersten Eintrag ins Journal.

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FOTO: DPA Lydia Davis liest aus ihrem neuen Buch „Kanns nicht und wills nicht“.

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