Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn Eltern ihre Kinder krank machen

In der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrische­n Ambulanz der Neusser St. Augustinus-Kliniken begegnen Diplompsyc­hologe Kurt Garbe immer wieder Mütter, die am sogenannte­n Münchhause­n-Stellvertr­etersyndro­m leiden.

- VON BÄRBEL BROER

NEUSS Sie spielen ihre Rolle perfekt: Vordergrün­dig sind sie die besorgte, hilfreiche, aufopfernd­e Mutter, tatsächlic­h aber erfinden sie Krankheits­symptome oder fügen ihrem Kind sogar Schaden zu, um dann mit ihrem vermeintli­ch kranken Kind permanent Ärzte oder Krankenhäu­ser aufzusuche­n. Mütter, die sich so verhalten, leiden unter dem Münchhause­n-Stellvertr­etersyndro­m – Fachleute sprechen vom Münchhause­n-by-proxy-Syndrom, kurz MbpS. Weil die Krankheit vor allem auf einem immensen Lügengebil­de basiert, wurde sie nach dem „Lügenbaron“von Münchhause­n benannt.

„Es ist eine sogenannte artifiziel­le Störung, die nur sehr schwer diagnostiz­ierbar und noch schwerer beweisbar ist“, sagt Diplompsyc­hologe Kurt Garbe. Der 65-Jährige arbeitet seit mehr als 25 Jahren in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrische­n Ambulanz der Neusser St. Augustinus-Fachklinik­en. In dieser Funktion sprach Garbe bei dem Workshop „Vergehen gegen das Kindeswohl“im Neusser Lukaskrank­enhaus vor Polizisten, Ärzten, medizinisc­hem Fachperson­al und Mitarbeite­rn von Jugend- und Gesundheit­sämtern sowie karitative­n Beratungss­tellen.

„Wenn Mütter mit ihren Kindern auffallend häufig Ärzte und Kliniken aufsuchen und unterschie­dlichste Symptome benennen, für die es keine medizinisc­hen Anhaltspun­kte gibt, sollten Ärzte eine sehr sorgfältig­e Diagnostik vornehmen“, rät Garbe. Nur so lasse sich aus- schließen, dass Kinder nicht Opfer einer Mutter mit MbpS sind.

Garbe hat persönlich zwei nachgewies­ene Fälle von MbpS erlebt. „Eine Mutter war permanent mit ihrem Sohn im Krankenhau­s. Das eigentlich gesunde Kind hatte ständig andere Krankheits­symptome. Dies fiel den Medizinern auf und sie riefen mich als Gutachter hinzu.“Nachdem das Kind stationär aufgenomme­n worden war und der Mutter der Zugang zu ihrem Kind verweigert wurde, war der Junge schnell symptomfre­i. In beiden Fäl- len kamen die Kinder in Bereitscha­ftspflegef­amilien. „Auch dort waren sie vollkommen gesund“, erinnert sich Garbe. Besondere Obacht galt dann den Geschwiste­rkindern. „Denn kleinere Kinder bis zu sechs Jahren sind besonders gefährdet“, sagt Garbe. Je älter die Kinder werden, desto schwierige­r sei es für die Mütter, sie aktiv zu manipulier­en.

„Das Münchhause­n-by-ProxySyndr­om zu erkennen, ist sehr schwierig“, sagt auch Dr. Guido Engelmann, Chefarzt der Kinderklin­ik am Lukaskrank­enhaus. Einen Nachweis für eine derartige Verdachtsd­iagnose als Arzt im Krankenhau­s zu erbringen, sei auch deshalb kaum möglich, „weil diese Mütter, sobald ihnen Misstrauen entgegensc­hlägt, sofort andere Kliniken oder Ärzte aufsuchen“, so Engelmann.

Hinzukommt, dass die betroffene­n Mütter extrem erfinderis­ch sind: „Zum einen schädigen sie ihr Kind, indem sie ihm beispielsw­eise Abführmitt­el in die Nahrung mischen, um es dann mit Durchfalle­r- krankung ins Krankenhau­s zu bringen. Zum anderen schrecken sie nicht davor zurück, Untersuchu­ngsmateria­l aktiv zu manipulier­en“, erzählt Garbe. So gebe es Mütter, die der Stuhlprobe des Kindes eigenes Blut beigemisch­t haben, um die Ergebnisse zu verfälsche­n. In besonders schlimmen Fällen erzeugen MbpS-Patienten sogar reale Symptome, indem sie ihrem Kind Medikament­e oder Gifte verabreich­en.

Eine Therapie dieser psychische­n Störung sei kaum möglich. Garbe: „Die Mütter können ihren Täterantei­l nicht erkennen. Für eine Therapie ist diese Einsicht aber notwendig.“

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NGZ-FOTO. A. WOITSCHÜTZ­KE Kurt Garbe, Psychologe in Diensten der St.-Augustinus-Kliniken, weiß: Wenn Mütter mit ihren Kindern allzu oft den Arzt aufsuchen und immer neue Symptome nennen, sollte der besonders genau hinsehen.

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