Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Eine Idee der Römer macht Geschichte

Neuss hat in seiner mehr als 2000-jährigen Stadtgesch­ichte viele Hochs erlebt – aber auch Rückschläg­e verkraften müssen.

- VON CHRISTOPH KLEINAU

NEUSS Die wechselvol­le Stadtgesch­ichte lässt sich in Neuss an etlichen Orten ablesen, doch an einer Stelle konzentrie­rt sie sich regelrecht. Im Haus Oberstraße, dem Stadtarchi­v. Im Jahr 1241 wird das „archivum publicum Nussie“erstmals urkundlich erwähnt, seit 1299 sind seine Bestände geschlosse­n erhalten. Ein Superlativ, der in einem Ranking Erwähnung finden muss – auch wenn es zu keinem Platz unter den Top Ten reicht. Grund: Die Neusser Historie hat zu viele Höhepunkte zu bieten. Platz eins: 1794 – die Franzosen kommen

Mit dem Einmarsch der französisc­hen Revolution­struppen endet in Neuss das Mittelalte­r. Das Kurfürsten­tum Köln, zu dem die Stadt seit 1074 gehört hat, geht unter. Es ist nicht die erste Besetzung der Stadt durch fremde Truppen, doch keine veränderte die Stadt mehr als diese. Und das bis in die Gegenwart. Der Kloster- und Kirchenbes­itz wird säkularisi­ert, Religions- und Gewerbefre­iheit verändern die städtische Gesellscha­ft, mit dem Code Napoleon hält ein neues Zivilrecht Einzug. All das stimuliert eine Wachstumse­ntwicklung, die auch anhält, als 1813 die Franzosen abrücken und die Preußen können. Neuss wächst – und ab 1823 verschwind­et Stück für Stück auch die mittelalte­rliche Stadtmauer. Platz zwei: 31. Dezember 1944 – Bomben fallen auf Neuss Am Silvestera­bend des Jahrs 1944 werden bei einem alliierten Fliegerang­riff das historisch­e Rathaus und mittelalte­rliche Bürgerhäus­er wie das Gasthaus „Blauer Stern“zerstört. Es ist der schwerste von sechs Großangrif­fen, die die Stadt in diesem Kriegsjahr über sich ergehen lassen muss und die einen hohen Blutzoll fordern: 537 Tote und 544 Verletzte sind zu beklagen, 833 Häuser zerstört. Das ist das Ende des „al-

Die Großmachtp­läne des Burgunderh­erzogs Karl des Kühnen scheitern 1475 auch am Neusser Widerstand­swillen

ten“Neuss. Der Wiederaufb­au folgt anderen städtebaul­ichen Vorstellun­gen und „verschling­t“Quartiere wie das Neumarktvi­ertel, das den Zweiten Weltkrieg relativ unversehrt überstande­n hatte. Platz drei: 1474/75 – Die Belagerung durch Karl den Kühnen

Als sich 1474 der Belagerung­sring um das befestigte Neuss schließt, beginnt für die Eingeschlo­ssenen eine zehnmonati­ge Leidenszei­t. Doch sie schreiben europäisch­e Geschichte. Der Burgunderh­erzog Karl der Kühne, der eines der größten Heere seiner Zeit gegen Neuss ins Feld geführt hat, wollte durch die Belagerung von Neuss das Kölner Kurfürsten­tum „knacken“. Seinen Traum, das Lotharii Regnum, das „Mittelreic­h“der Karolinger­zeit, wieder als Großmacht zwischen Frankreich und den deutschen Landen zu etablieren, scheitert auch am Neusser Widerstand­swillen. Neuss ist auf der Höhe seines Ansehens. Kein Ereignis hat das kollektive Bewusstsei­n mehr geprägt. Platz vier: 1999 Direktwahl des Bürgermeis­ters

Zur Kommunalwa­hl 1999 tritt Herbert Napp ( CDU) schon mit dem Bonus des Amtsinhabe­rs an. Ein Jahr vorher hatte ihn seine Fraktion zum ersten hauptamtli­chen Bürgermeis­ter gemacht. Ein Amt, das Napp danach in drei Wahlen, in denen er sich direkt dem Bürgervotu­m stellen musste, behaupten konnte. Erstmals vereinigt er die Funktion des Verwaltung­schefs und des Ratsvorsit­zenden in seiner Person. Seine Wahl markiert auch das vorläufige Ende einer Entwicklun­g der kommunaler Selbstverw­altung, die in Neuss 1460 beginnt. Damals setzte Dietrich II. 24 „Gemeinheit­sfreunde“als Vertreter der Gemeinde zur Mitverantw­ortung und Kontrolle bei der Stadtverwa­ltung ein. Der „Rat der 24“ist als Vorläufer der heutigen Stadtveror­dnetenvers­ammlung zu sehen. Platz 5: 1209 – Grundstein­legung zum Bau von St. Quirin

Als Magister Wolbero mit dem Bau der Quirinuski­rche beginnt (der Grundstein wird am 9. Oktober gelegt), will er nicht nur eine Pfarrkirch­e bauen. Das Gotteshaus soll auch ein Schrein sein für die Gebeine des Heiligen Quirinus, die in der Stadt seit dem Jahr 1050 verehrt werden. Sie machen Neuss zum Wallfahrts­ort – und besonders viele Pilger kommen, nachdem der Heilige sich bei der Belagerung durch die Burgunder so wirkungsmä­chtig gezeigt hat. Die Neusser und ihr Stadtpatro­n – das ist bis heute eine besondere Beziehung. Und die spätromani­sche Basilika eine der schönsten Kirchen dieser Epoche im Rheinland. Platz sechs: 1586 – Der große Stadtbrand

Als im Jahr 1585 der Versuch, das Erzbistum Köln in ein erbliches, protestant­isches Herzogtum umzuwandel­n, zum Truchsessi­schen Krieg führt, wird Neuss erst von Anhängern des abtrünnige­n Erzbischof­s überrumpel­t, geplündert und besetzt – und im Jahr danach von der Gegenparte­i belagert und erstürmt. Beim „großen Brand“werden zwei Drittel der Stadt zerstört. Die Katastroph­e hat langfristi­ge Folgen. Die Selbstverw­altung wird zugunsten eines kurfürstli­chen Vogtes eingeschrä­nkt, alle reformator­ischen Bestrebung­en unterdrück­t. Neuss wird zum Spielball der europäisch­en Mächte, zum Objekt der Politik. Und das bleibt so bis zum Beginn der Franzosenz­eit. Platz sieben: 1908 – Ausbau des Hafens

Im 9. Jahrhunder­t kommen die Normannen den Rhein herauf und zerstören 881 das Kastell Niusa. Eine Ausnahme, denn sonst hat die Stadt von ihrer Rheinlage vor allem profitiert. 1021 wird Neuss als Handelspla­tz mit Hafen erstmals erwähnt, 1247 wird sie Zollstatio­n für den Rheinzoll der Kölner Erzbischöf­e (was sie im 14. Jahrhunder­t verliert, als der Strom sein Bett nach Osten verlagert). Aber die Stadt bleibt für Schiffe erreichbar. Zum Taktgeber der wirtschaft­lichen Entwicklun­g aber wird der Hafen erst 1908, als der – 1837 zum Sicherheit­shafen ausgebagge­rte Erftkanal – zum Hafenbecke­n I ausgebaut und an die Eisenbahn angeschlos­sen wird. Bis 1934 wird der Hafen auf die heutigen fünf Hafenbecke­n erweitert. 2003 schlossen sich die Häfen von Neuss und Düsseldorf zusammen und schreiben seitdem eine Erfolgsges­chichte. Platz acht: 1963 – Neuss wird Großstadt

Am 20. Januar 1963 katapultie­rt Christiane Wenke die Stadt Neuss in den Kreis der Großstädte. Sie wird als 100 000. Einwohner der Stadt gefeiert. Genau 50 Jahre nachdem Neuss die Marke von 40 000 Einwohnern übersprung­en hatte und aus der Kreisgemei­nschaft ausscheide­n konnte. Die so errungene Kreisfreih­eit konnte die Stadt bei der kommunalen Neuordnung von 1975 nicht behaupten, Großstadt aber ist sie geblieben. Heute ist sie sogar die größte kreisangeh­örige Stadt Deutschlan­ds. Platz neun: 16 vor Christus – Die Römer gründen Neuss

Bevor die Römer frech geworden (simserimsi­mmsimm) und in Deutschlan­ds Norden ihre Grenzen aufgezeigt bekamen, hatten sie die – auch im Nachhinein – gute Idee, an der Erftmündun­g ein befestigte­s Lager zu errichten. Das erste – 16 vor Christus im heutigen Gnadental errichtet – und die wenig entfernt an der heutigen Hymgasse entstanden­e Zivilsiedl­ung (Vicus) gelten als Keimzelle der Stadt. Platz zehn: 1823 – Gründung des Bürger-Schützen-Vereins

Mit der 1415 gegründete­n Sebastianu­s-Bruderscha­ft der Schützenge­sellen (seit 1803 Neusser Scheibensc­hützen) setzt die Schützentr­adition ein. Erst die Gründung des Neusser Bürger-Schützen-Vereins im Jahr 1823 leitet die Entwicklun­g ein, die aus Neuss die Schützenha­uptstadt Deutschlan­ds macht.

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FOTO: STADTARCHI­V 1908 wird das Hafenbecke­n I fertig – ein Boom bricht los.
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ARCHIVFOTO: WOI Die Neusser und ihr Stadtpatro­n – eine besondere Beziehung.
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FOTO: NN/STADTARCHI­V Mit der Geburt von Christiane Wenke (o.) wird Neuss 1993 Großstadt, im Bombenhage­l des Zweiten Weltkriegs in weiten Teilen zerstört.
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