Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Geschichte einer Menschwerdung
„Die Sprache des Herzens“erzählt von einem taubblinden Mädchen.
Als Schwester Marguerite Marie das erste Mal sieht, hockt das Mädchen in den Ästen eines Baums. Wie es auf der Flucht vor den anderen Nonnen dort hochkam, ist Marguerite ein Rätsel. Marie wurde blind und taub geboren, schwarz ist ihre Welt und totenstill. Der Vater hat sie ins Kloster gebracht, um sie für immer dazulassen. Zu Hause kauerte Marie den ganzen Tag wie ein schmutziges Tier unter dem Tisch und strich sich mit ihrem Kleinod, einem stumpfen Taschenmesser, über die Wangen, um etwas zu spüren. Was soll ein armer französischer Bauer des 18. Jahrhunderts mit einer verwilderten 14-Jährigen anfangen, die komplett in sich gefangen ist?
„Die Sprache des Herzens“von Jean-Pierre Améris erzählt die wahre Geschichte einer Menschwerdung. Marie Heurtin (1885-1921) lebte bis zu ihrem Tod bei den Ordensschwestern im heutigen Institut Larnay. Wie die taubblinde amerikanische Schriftstellerin Helen Keller, deren Vita Arthur Penn 1962 im Drama „Licht im Dunkel“schilderte, trug Marie schließlich über ihre Behinderung den Sieg davon. Am Ende konnte sie die Blindenschrift Braille lesen, andere taubblinde Mädchen ausbilden und war als Brettspielerin unschlagbar.
Der Film rafft Maries Lernprozess zeitlich von den tatsächlichen 15 Jahren auf ein paar Monate, spart aber seine Härten nicht aus. Isabelle Carré spielt Marguerite als zarte, von innen heraus leuchtende Per- son, die sich verantwortlich fühlt für die zornige Kreatur aus dem Garten. Marguerites Herz versagt den Dienst, genug Zeit bleibt ihr vielleicht nicht, aber sie entwickelt eine spezielle Gebärdensprache für Marie.
Deren Weg ins Leben schildert Améris quälend lang. Dreißig, vierzig Minuten sieht man die zwei miteinander kämpfen. Marie (Ariana Rivoire) schlägt entfesselt um sich, Marguerite ringt mit ihr. Ein verbissenes Gerangel mit der Haarbürste, am Mittagstisch, im Badezuber. Unermüdlich drückt Marguerite das Messer in Maries Handfläche und dann das passende Fingerzeichen hinein, Messer, Messer, Messer. Eines Tages, Marguerite ist gerade nicht anwesend, formt das Kind das Wort, selig lächelnd. Ein Wunder, das man da bezeugt, die Errettung einer Seele.
Wie unaufgeregt, ergreifend und oft situationskomisch Améris („Die anonymen Romantiker“) das inszeniert, ist ein kleines Wunder für sich. Die Kamera nähert sich Marie so behutsam wie Marguerite, in pastelligen, leicht verschwommenen Bildern.
Der Film handelt von Hoffnung, Nächstenliebe und der schieren Kraft des Willens. Und von der Freundschaft zweier Frauen, die emotional schon lange miteinander kommunizieren, bevor die gemeinsame Sprache greift.
Gelegentlich ist das natürlich kitschig und hemmungslos spirituell. Aber die – selbst gehörlose – Laiendarstellerin Ariana Rivoire spielt ihre Rolle mit einer Kraft und Intensität, die sehr weit darüber hinaus wirkt.
Man müsste schon blind und taub sein, um sich von ihr nicht das Herz brechen zu lassen. „Die Sprache des Herzens“,