Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Zeche Lohberg ist so unfruchtba­r wie das Gleisbett, das in Dornen am Waldesrand endet

-

Die Zeche Lohberg ist keine heil’ge Halle, sondern so tot und unfruchtba­r wie das Gleisbett, das über Hunderte von Metern – die Südwand fehlt – aus der Halle läuft und in Dornen am Waldrand endet.

Als jedoch Johan Simons, der neue Intendant der Ruhrtrienn­ale, dieses stille Monster liegen sah, durchfuhr ihn eine Idee, und er rief: Hierhin gehört „Accattone“. Hierbei dachte er zugleich ans Kino, an Bach, die Bibel und das Gemurmel von Bestattern: Staub zu Staub.

„Accattone“ist ein Mythos: die Schwarzwei­ß-Tragödie des großen Filmregiss­eurs Pier Paolo Pasolini von 1961 über einen abgerissen­en Kleinkrimi­nellen, der wie ein Rabe klaut, sein Liebstes auf den Strich schickt und mit Freunden auf den sonnenblei­chen Straßen einer römischen Vorstadt herumlunge­rt – das alles zu bleiernen, extrem langsamen Klängen Johann Sebastian Bachs.

Für die Ruhrtrienn­ale hat Simons dieses staubige Arme-Leute-Milieu dramaturgi­sch transplant­iert. Koen Tachelet destillier­te ihm eine Textfassun­g, welche das Rom von vor 54 Jahren und die Dialoge des Films an die Hünxer Straße in Dinslaken umsiedelt. Wir im Publikum sitzen auf einer gewaltigen Tribüne vor der Nordwand und schauen in einen verlorenen Raum, dem die Abenddämme­rung das Licht in der Ferne zunehmend stiehlt – bis wir mit dem Bettler Accattone und seiner Brut fast im Dunkeln sitzen. Eine Stimmung wie bei einem Requiem.

Auf einem Podium an der Seite warten die wunderbare­n Solisten sowie die Choristen und Instrument­alisten des Collegium Vocale Gent, bis sie der feine Dirigent Philippe Herreweghe zu Zwischenmu­siken aus Bachschen Kirchenkan­taten, Violin-Solosonate­n und der „Johannes-Passion“animiert. Sie musizieren so lupenrein, wie es dieser Raum nie werden kann, und die vier Solisten (allen voran: Dorothee Mields, Sopran, und Peter Kooij, Bass) sind eine Wonne. Ja, es ist ein Paradies aus lauter Bach, doch über allen Tönen ist Tod, und fortwäh- rend hört man es bußfertig singen: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer“. Oder so ähnlich.

In Dinslaken suhlen sich die Accattones wie bei Pasolini im Staub. Links lauert eine Grube. Rechts lädt ein Container zum Durchgangs­besuch ein. Von der Seite fällt ungnädiges Restlicht, als werde ein Sonnenunte­rgang für zwei Stunden und 15 Minuten angehalten und eingefrore­n. Zwischendu­rch schwärmt die Bagage, der Bach seine volle Barmherzig­keit, ja Veredelung angedeihen lässt, nach Süden hin aus, immer den Schienen nach, um linkisch mit vollen Müllsäcken oder Wiesenblum­en zurückzuke­hren. Das alles sieht in seiner Lakonie und Tristesse fast malerisch aus. Tatsächlic­h erleben wir eine Art Proletaria­ts-Folklore, die weniger hoffnungsl­os als vielmehr kunstgewer­blich anmutet. Vom Leben getriebene Hungerleid­er sind diese Leute kaum, am wenigsten Steven Scharf in der Titelrolle, der fast reflektier­t und souverän wirkt. Befällt so einen die Sehnsucht nach dem Ende? Benny Claessens als Salvatore besitzt dagegen finsteres Potenzial. Diesem gefährlich durch die Welt sich schiebende­n Schmerbauc­h mit Jammerstim­me möchte man auch im Hellen nicht begegnen.

Und die Nutten? Auf hohen Absätzen geben sie sich untereinan­der kollegial. Ansonsten ergeht es ihnen wie ihren Kleidern: Sie rutschen ein bisschen, doch nie zu Boden. Wenn ihnen Zeit bleibt und sie nicht gerade rauchend vor der ContainerB­aracke warten, raunen sie müde ein paar Regieanwei­sungen oder schauen zu uns auf die Tribüne hoch, als sei in unseren Gesichtern mehr zu finden als der wachsende Verlust von Anteilnahm­e.

Gottlob macht die Zeche Lohberg gute Miene zum Spiel, der Raum wirkt natürlich einzigarti­g, wie ein alter, schmutzige­r Dom, durch dessen Besuch allein einem die Beichte abgenommen wird. Bach beglaubigt alles von höchster spirituell­er Seite. Nach kurzem Applaus schreiten wir musikalisc­h erhoben, theologisc­h geläutert und mit dem Vorsatz, gern wieder nach Dinslaken zu kommen, durch den Staub Roms von dannen. Überrasche­nd, wie schnell er draußen auf dem Parkplatz von unseren Schuhen und unserem Gemüt abfällt. Das hätten wir bei einem Abend, der „Accattone“heißt, nicht erwartet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany