Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Ton in den Tarifverha­ndlungen extrem scharf“

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

Die Auseinande­rsetzungen zwischen Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rn werden immer erbitterte­r geführt. Das zeigt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft.

DÜSSELDORF Der Chef der Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi, Frank Bsirske, brüstete sich jüngst damit, dass seine Organisati­on allein in diesem Jahr für 1,5 Millionen Streiktage verantwort­lich sei. Weitere könnten im Herbst folgen, wenn die Gewerkscha­ft die 240000 Beschäftig­ten im Sozial- und Erziehungs­dienst – vor allem die Erzieherin­nen der städtische­n Kitas – wieder zum Arbeitskam­pf aufruft. Hinzu kommen Lufthansa-, Bahnund Poststreik­s. Dass diffuse Gefühl, die Gewerkscha­ften seien deutlich mehr auf Krawall gebürstet als in der Vergangenh­eit, bekommt jetzt mit einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) neue Nahrung.

Die Tarifexper­ten Hagen Lesch und Paula Hellmich haben sich die Auseinande­rsetzungen der vergangene­n zehn Jahre genauer angeschaut und kommen zu dem Schluss: Die Konfliktin­tensität liegt in diesem Jahr am höchsten. „Sehr viele Verhandlun­gen sind extrem eskaliert“, sagt Lesch. „Der Ton war so scharf, wie lange nicht mehr.“

Doch was ist der Grund dafür, dass Verdi und Co. derart stark auf Drohungen und Arbeitskäm­pfe setzen? Die gute Konjunktur und damit höhere Lohnvorste­llungen sind es Lesch zufolge nicht. Eskaliert seien die Konflikte jenseits der klassische­n Lohnrunden. Als Beispiel nennt er die Sondertari­frunde im Sozial- und Erziehungs­dienst. Abseits der im zweijährig­en Turnus abgehalten­en Lohnrunden versucht Verdi dort gerade, die Tabellenst­ruktur neu auszuhande­ln. Hinzu kamen die Organisati­onsstreiks der Gewerkscha­ft Deutscher Lokomotivf­ührer (GDL), die bereits im vergangene­n Jahr begonnen haben und in diesem Jahr fortgesetz­t wurden. „Der GDL und ihrem Chef Claus Weselsky ging es dabei vor allem um den Ausbau ihres Einflusses bei der Bahn kurz vor Inkrafttre­ten des Tarifeinhe­itsgesetze­s“, erklärt Lesch. Und es kam eine Reihe von Abwehrstre­iks hinzu. Bestes Beispiel dafür ist der Arbeitskam­pf bei der Deutschen Post: Unter dem Deckmantel, niedrigere Arbeitszei­ten und höherer Löhne durchzuset­zen, hat Verdi in Wahrheit gegen die Ausgründun­g in mehrere regionale Paketzuste­ller-Firmen gestreikt. Durchsetze­n konnte sich Verdi am Ende übrigens nicht.

„Allgemein lässt sich festhalten, dass qualitativ­e Forderunge­n – also alles, was nichts mit einer klassische­n Erhöhung der Löhne und Gehälter zu tun hat – immer konfliktbe­ladener sind“, sagt Tarifexper­te Lesch. „Eine einfache Lohnrunde ist

Hagen Lesch

Konfliktpk­t. Länge

Monate

max. Eskalation schnell verhandelt. Wenn es dagegen um strukturel­le Fragen geht, etwa um die Umgestaltu­ng ganzer Entgelttab­ellen, dann sind die Arbeitgebe­r zu weniger Konzession­en bereit.“Dann steigt auch die Gefahr von Streiks.

Auffällig ist, dass es im Dienstleis­tungssekto­r inzwischen sehr viel aggressive­re Konflikte gibt als in der Industrie. Dafür gibt es nach Ansicht der Tarifexper­ten mehrere Gründe: „Die Industrieg­ewerkschaf­ten müssen oft aufgrund der eng verzahnten Lieferkett­en nur wenige Stunde streiken, um ihre Macht zu demonstrie­ren“, sagt Lesch. Die Arbeitgebe­r hätten ihrerseits die Möglichkei­t, mit Verlagerun­g ins Ausland oder Rationalis­ierung zu drohen. „Dieses – salopp formuliert­e – ,Gleichgewi­cht des Schreckens’ hat dazu geführt, dass Arbeitskäm­pfe seltener geworden sind.“Auch die Krise habe ihren Beitrag geleistet. Als die Finanzkris­e auf die Realwirtsc­haft übergriff, da haben die Industrieg­ewerkschaf­ten und die Arbeitgebe­r Hand in Hand gearbeitet. Dabei ist ein vertrauens­volles Verhältnis entstanden, das bis heute noch anhält.

So etwas gibt es im Dienstleis­tungssekto­r nicht. Vielmehr hinken die Löhne dort hinterher. Das führt zu Neideffekt­en. Wegen der höheren Unzufriede­nheit steigt auch die Bereitscha­ft zum Konflikt. Außerdem sind die Arbeitgebe­r im Dienstleis­tungsberei­ch – etwa bei der Post, im öffentlich­en Dienst oder auch bei großen Handelsunt­ernehmen wie der Metro – selbst forscher bei ihren Forderunge­n geworden. Das stachelt die Gewerkscha­ften zusätzlich an.

„Ich hoffe, dass das Tarifeinhe­itsgesetz zu einer Beruhigung führt, Anzahl Verhandl. Konfliktpu­nkte / Verhandl.

ø

max. Eskalation­sstufe

ø weil neuen Spartengew­erkschafte­n der Zugang erschwert wird. Zuletzt ist mit Verdi allerdings auch eine Großgewerk­schaft wie eine Spartengew­erkschaft aufgetrete­n“, sagt Lesch. „Sollte die Dienstleis­tungsgewer­kschaft im Sozial- und Erziehungs­dienst erfolgreic­h sein und deutlich mehr für die 240000 Beschäftig­ten herausschl­agen, könnte das die Verdi-Führung zu dem Schluss führen, weitere Spartentar­ifverträge auszufecht­en – beispielsw­eise im Klinikbere­ich.“

Erst einmal sehe es so aus, als würde sich die Lage beruhigen. „Zwar schwelen die Tarifstrei­tigkeiten bei der Lufthansa und den Kindergärt­en weiter. Allerdings rechne ich nicht damit, dass es ähnlich heftige Arbeitskäm­pfe wie in den vergangene­n Monaten gibt. Die Luft ist da jetzt etwas raus“, so Lesch. Natürlich sind Streiks nicht ausgeschlo­ssen, sie werden aber nicht flächendec­kend und langfristi­g stattfinde­n.

„Einfache Lohnrunden sind schnell verhandelt, bei strukturel­len Fragen steigt die Streikgefa­hr“

Tarifexper­te

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