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Riesiger Krater nach Explosion in China
Die Zahl der Toten bei der Katastrophe in Tianjin steigt auf 112. Unter den Opfern sind viel mehr Feuerwehrleute als bisher zugegeben. Verzweifelte Hinterbliebene protestieren und stürmten sogar eine Pressekonferenz.
TIANJIN (dpa) Bei der Katastrophe im Hafen von Tianjin sind vermutlich mehr Menschen ums Leben gekommen, als bisher angenommen – unter ihnen auch viele Feuerwehrleute. Die Angehörigen beklagen, die Behörden der nordchinesischen Metropole hätten Zahlen zunächst bewusst verschwiegen, weil die frei angeheuerten Hilfsfeuerwehrleute nicht zur offiziellen Truppe der Brandbekämpfer gehörten. Diese werden in China aus Soldaten rekrutiert und unterstehen dem Militär.
Erst am vierten Tag nach den verheerenden Explosionen in dem Gefahrgutlager enthüllten die Behörden gestern, dass noch 85 Feuerwehrleute in den Trümmern um den riesigen Krater vermisst werden. Zunächst wurde offiziell der Tod von mindestens 20 Brandbekämpfern bestätigt. Insgesamt starben 112 Menschen. Die Familien sind empört, schimpfen auf die Behörden, stürmten sogar eine Pressekonferenz in einem Hotel. Es kam zu Tumult, doch wurden sie von Sicherheitsleuten abgedrängt.
„Wir wollen unseren Sohn sehen – egal, ob tot oder lebend“, sagte Liu Ruwen der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua. Sein 19-jähriger Sohn Liu Zhiqiang ist seit dem späten Mittwochabend vermisst. „Seine Mutter weint den ganzen Tag im Hotel – ihr geht es gesundheitlich schlecht“, sagte ein Verwandter.
Auch der 19-jährige Yuan Xuxu ist nicht zurückgekehrt. Er gehörte zu der ersten, 25-köpfigen Truppe, die am Brandort eintraf – ohne zu wissen, dass dort tonnenweise Chemikalien lagerten. Wie immer versuchten sie, mit Wasser den Brand zu löschen. Möglicherweise lösten sie so eine hochexplosive chemische Kettenreaktion aus, die in den gigantischen Explosionen, einer kilometerweiten Druckwelle und einer apo- kalyptischen, pilzförmigen Rauchwolke endete.
Die Familien kritisieren, dass nicht alle vermissten Feuerwehrleute gezählt wurden, und vermuten Vertuschung. Auch wurden sie nicht informiert. Vor dem Verwaltungssitz des Binhai Distrikts gab es gestern wieder Wortgefechte mit Polizisten, die sie wegdrängen wollten. Es geht auch darum, dass die – oft aus armen Verhältnissen – frei ange- worbenen Brandbekämpfer und ihre Familien genauso behandelt werden wollen wie ihre Kollegen aus der offiziellen Feuerbrigade, die nicht nur ohnehin besser bezahlt werden, sondern auch ganz andere Sozialleistungen genießen.
So wirft die hohe Opferzahl die Frage auf, ob Chinas Feuerwehrleute für solche Notfälle überhaupt ausreichend ausgebildet sind. Angesichts einer Serie von Todesfällen unter Brandbekämpfern sind Training und Qualität der Feuerwehr ohnehin längst ein viel diskutiertes Thema.
Unter den zehn Millionen Einwohnern der Metropole nur 120 Kilometer östlich von Peking geht die Angst vor gefährlichen Stoffen in der Luft und im Wasser um. In Krankenhäusern wurden am Sonntag noch 698 Verletzte behandelt. Darunter sind 57 Schwerverletzte. Die Tragödie enthüllte nach Ansicht der Regierung einen „lockeren“Umgang mit gefährlichen Chemikalien. China müsse „äußerst tiefgreifende Lehren ziehen, die mit Blut bezahlt wurden“, sagte Staats- und Parteichef Xi Jinping. Im ganzen Land wurden Sicherheitsinspektionen angeordnet.