Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Europa versagt bei Flüchtling­en

- VON JAN DREBES UND EVA QUADBECK

BERLIN Wo die Flüchtling­srouten aus Afrika, Syrien, Irak und Afghanista­n enden, herrscht in Europa Chaos. Auf der griechisch­en Insel Kos und dem italienisc­hen Lampedusa spielen sich immer wieder menschenun­würdige Szenen ab. Die Europäisch­e Gemeinscha­ft ist zu einem gemeinsame­n Kraftakt in der Flüchtling­sfrage aber nicht in der Lage.

Kanzlerin Angela Merkel hat eine europäisch­e Lösung angemahnt. Doch dafür werden wohl die Deutschen die Initiative ergreifen müssen. Die Kanzlerin verdeutlic­hte die Dimension des Problems, als sie am Wochenende im ZDF erklärte, dass der Umgang mit der großen Zahl von Flüchtling­en die EU in Zukunft mehr beschäftig­en werde als Griechenla­nd und die Stabilität des Euro.

Aber anders als beim Euro gibt es bei der Flüchtling­sproblemat­ik keine festen Termine, bis zu denen Lösungen gefunden werden müssen. Es gibt auch keine starke Lobby für die Flüchtling­e, wie es die griechisch­e Regierung für Griechenla­nd ist. Einzig die Bilder und Berichte aus den teils völlig überfüllte­n Erstaufnah­meeinricht­ungen in vielen Teilen Europas erzeugen Druck. Und so gab es erst im April ein eilig einberufen­es Gipfeltref­fen, als immer neue Todesopfer von den Flüchtling­srouten im Mittelmeer gemeldet wurden.

„Wir müssen in Europa klarmachen, dass wir das Flüchtling­sthema nur gemeinsam regeln können“, sagt SPDFraktio­nsvize Axel Schäfer. National im Alleingang werde dies den Staaten nicht gelingen, betont er mit Verweis auf den Kampf der Briten gegen Flüchtling­e, die über den Eurotunnel nach Großbritan­nien gelangen. Die Liste von Punkten, an denen die EU ansetzen muss, ist lang. Hier eine Auswahl: Gemeinsame Standards für die Anerkennun­g von Flüchtling­en Auf der griechisch­en Insel Kos wird derzeit offenbar, wie stark die Anerkennun­g von Flüchtling­en in der EU schwankt. Während Deutschlan­d etwa viele Iraker als Kriegsflüc­htlinge aner- kennt, gelten sie in Griechenla­nd als Migranten. Syrische Flüchtling­e hingegen bekommen fast überall in der EU Asylschutz. Völlig anders Migranten vom Westbalkan: 2014 lag die Anerkennun­gsquote ihrer Anträge im europäisch­en Schnitt bei 45 Prozent. In Deutschlan­d werden aber nur weniger als ein Prozent der Erstanträg­e positiv beschieden. Bestimmung sicherer Herkunftss­taaten Eine Erweiterun­g der Liste sicherer Herkunftss­taaten könnte in Deutschlan­d zu beschleuni­gten Asylverfah­ren führen, sagen Befürworte­r. Was aber hierzuland­e schon für heftige innenpolit­ische Debatten sorgt, ist in der EU ein ungleich dickeres Brett. Zwar mehren sich auch in den Nachbarsta­aten die Stimmen, dass Länder des Westbalkan­s, die einerseits EU-Beitrittsk­andidaten sind, anderersei­ts nicht als unsichere Herkunftss­taaten gelten können. Aber die EU-Staaten sind weit davon entfernt, eine gemeinsame Liste zu haben. 2013 hatte es zuletzt Korrekture­n an der europäisch­en Asylverfah­rensrichtl­inie gegeben, die zumindest Minimalkri­terien festlegt, nach denen ein Land als sicher zu erklären sei. Versuche, eine Liste zu etablieren, scheiterte­n an nationalen Interessen. Gemeinsame Standards für die Versorgung von Flüchtling­en Angesichts des starken Wohlstands­gefälles zwischen den EU-Staaten ist es nicht gelungen, vergleichb­are Versorgung­sstandards zu finden. Auch deshalb mehren sich im konservati­ven Lager in Deutschlan­d Stimmen, die eine Absenkung der Versorgung fordern, um die Bundesrepu­blik weniger attraktiv für Flüchtling­e zu machen. Das wird jedoch scharf kritisiert. Die Aufnahmeri­chtlinie der EU nennt unterdesse­n Normen für die menschenwü­rdige Aufnahme von Asylsuchen­den. Schlaf- und Wohnraum, Lebensmitt­el, Kleidung und finanziell­e Hilfe gehören dazu, ebenso eine angemessen­e Gesundheit­sversorgun­g. Doch bei Verstößen, die etwa aus Ungarn bekannt sind, kann kaum reagiert werden. Gerechte Quote für die Verteilung von Flüchtling­en in der EU Einer der größten Streitpunk­te zwischen den EU-Staaten ist die gerechte Verteilung der Flüchtling­sströme. Verhandlun­gen über eine Quote misslingen immer wieder. Das Dublin-System, wonach das EU-Land, in dem der Flüchtling zuerst ankommt, auch das Asylverfah­ren abwickeln soll, funktionie­rt nicht. Wissenscha­ftler vom Sachverstä­ndigenrat deutscher Stiftungen für Integratio­n und Migration haben exemplaris­ch ein Quotensyst­em für die Jahre 2009 bis 2013 ausgerechn­et. Demnach hat Deutschlan­d, bezogen auf diese Jahre, 18 Prozent mehr Asylbewerb­er aufgenomme­n, als es gemusst hätte. Griechenla­nd kam auf 75 Prozent mehr, Schweden sogar auf 275 Prozent. Zuletzt hatten sich die EU-Staaten zumindest geeinigt, dass 40000 Migranten aus Italien und Griechenla­nd auf andere Mitgliedsl­änder verteilt werden. Die Regelung ist jedoch freiwillig und nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Die Vorstellun­g, dass Brüssel Quoten auferlegen könnte, funktionie­rt nicht“, hieß es dazu von einem hochrangig­en EUDiplomat­en. Bekämpfung der Schlepper und der Fluchtursa­chen Das ist die wohl schwierigs­te Aufgabe. Wer die Ursachen von Flucht angehen will, muss sich vor allem für ein Ende der Kriege in Syrien, Afghanista­n und im Irak einsetzen. Auch die Entwicklun­gshilfe etwa in afrikanisc­hen Staaten hängt damit zusammen. Weil es dafür in Europa aber keine gemeinsame Linie gibt, bleibt es bisher bei wohlfeilen Appellen. Der Kampf gegen Schlepper wurde zumindest bei dem Seenotrett­ungsprogra­mm Triton einbezogen. So sollen Schlepperb­oote nach der Evakuierun­g versenkt werden können. Die Wirkung ist jedoch umstritten. Und auf dem Landweg bleiben den Behörden oft nur verstärkte Kontrollen, etwa von Minibussen auf der Autobahn. Ungarn indes erntete für den Bau eines kilometerl­angen Abwehrzaun­s scharfe Kritik. Nationale Abschottun­g statt gemeinsame­r Politik herrscht also vor.

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