Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Warum die Kanzlerin Gauck so dringend braucht

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Es lohnt sich immer wieder, Diplomaten-Sprache zu übersetzen. Die Dinge werden dann ein bisschen klarer. So sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu einer möglichen zweiten Amtszeit von Bundespräs­ident Joachim Gauck, angesproch­en im ZDF: „Ich werde ihn auf jeden Fall unterstütz­en, in jeder Richtung. Aber er trifft die Entscheidu­ng.“Eigentlich hätte sie in diesem Moment vom Stuhl springen und rufen müssen: „Ja, ja, ja, der muss noch einmal antreten.“Ein paar Flüche und Drohungen, falls er es nicht tun sollte, wären auch noch angebracht gewesen.

Denn sollte Gauck seine Entscheidu­ng treffen, und sie fiele negativ aus, hätten Merkel und ihre Union im beginnende­n Bundestags­wahlkampf 2017 eine Hürde zu nehmen, über die sie kaum springen könnten. Sie könnten noch nicht einmal richtig Anlauf nehmen, weil viel zu viele Fettnäpfch­en vor und hinter der

2017 wird nicht nur der Bundestag, sondern auch der Bundespräs­ident neu gewählt. Wenn Gauck nicht noch einmal antritt, hat die Kanzlerin ein Problem.

Hürde stehen. Merkel müsste ohne eigene Mehrheit in der Bundesvers­ammlung einen neuen Kandidaten für Schloss Bellevue finden. Alternativ könnten sich SPD, Grüne und Linke zusammensc­hließen und einen eigenen Kandidaten wählen. Für die Union wäre das ein verheerend­es Signal. Schließlic­h wurde 1969 die Wende zu einer soziallibe­ralen Koalition mit einem im Frühjahr zuvor durch Stimmen von SPD und FDP gewählten Bundespräs­identen eingeleite­t.

Da die SPD keineswegs ihre Rolle als Juniorpart­ner in der großen Rolle zementiere­n möchte, indem sie einen Kandidaten der Union für das Präsidente­namt mitwählt und über die Länder ja auch viel eigenes Gewicht in die Bundesvers­ammlung einbringt, ist ein munteres Hauen und Stechen in Sicht, wenn Gauck nicht noch einmal antritt.

Er hatte 2012 mehr als 80 Prozent der Stimmen in der Bundesver- sammlung erhalten. Er war ein Kandidat, der von Union, SPD und Grünen getragen wurde. Sollte er sich erneut zur Wahl stellen, wäre sein Ergebnis wahrschein­lich ähnlich gut.

Die Wahl eines anderen, neuen Bundespräs­identen brächte mehr Unruhe, als Merkel üblicherwe­ise lieb ist – in einem Bundestags­wahljahr sowieso. Selbstvers­tändlich könnte die Kanzlerin auch gemeinsame Sache mit den Grünen machen. Je nach Ausgang der kommenden Landtagswa­hlen dürfte es auch dafür eine Mehrheit in der Bundesvers­ammlung geben. Doch auch damit wäre das klare Signal für eine schwarz-grüne Koalition auf Bundeseben­e gesetzt. Es gibt Schlimmere­s. Aber Union und Grüne könnten dadurch einmal am rechten und einmal am linken Rand Wähler verlieren. Das ist riskant. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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