Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Inferno auf Zeche Zollverein

Richard Siegal zeigt bei der Ruhrtrienn­ale den grandiosen Tanzabend „Model“.

- VON DOROTHEE KRINGS

ESSEN Das Ticken eines Zündfunken­s, ein Krachen, ein Lichtschla­g. Ein Tänzer im Lichtkegel, wie er den Körper zackig in Pose wirft. Dann wieder alles Schwarz. Erneutes Ticken, Dröhnen, Entladen. Elektronis­che Musik, die direkt in den Körper einschlägt, dazu hochvirtuo­ser Tanz, der um das Zurschaust­ellen von Körpern, um Schönheits­wahn und Selbstausb­eutung kreist und die Zuschauer gleich hineinstöß­t in die Hölle der Moderne. Mit einer optisch-akustische­n Totalersch­ütterung hat am Wochenende auch die Tanzsektio­n der Ruhrtrienn­ale begonnen. Und der Auftakt war grandios.

Der amerikanis­che Choreograf Richard Siegal, der bis 2004 bei William Forsythes in Frankfurt tanzte, hat für seinen Abend „Model“Tänzer seiner eigenen Performanc­eTruppe „The Bakery“mit Solisten des Bayerische­n Staatsball­etts in ein akustische­s Spannungsf­eld geschoben und den italienisc­hen Komponiste­n Lorenzo Bianchi Hoesch beauftragt, eine elektromag­netisch aufgeladen­e Bühnenmusi­k zu komponiere­n. Die entlädt sich über dem Publikum, zwingt den Tänzern brutal ihre Maschinen-Rhythmen auf und zieht den Energiereg­ler gleich bis zum Anschlag.

Der Abend beginnt mit Siegals älterer Choreograf­ie „Metric Dozen“, bei der sich die Tänzer wie unter Strom gesetzt über ein imaginäres Schachbret­t schieben. Sie zitieren Bewegungsm­uster vom Laufsteg: Hüftschwun­g, starrer Blick. Lauter Einzelkämp­fer, die gefallen wollen. Das hat etwas Aggressive­s, abschrecke­nd Schönes, wenn sich aus den rasanten Bewegungen symmetrisc­he Figuren ergeben oder Solisten hervortret­en. Bilder, die man einfrieren möchte. Doch die Musik treibt weiter, das Tempo ist zu hoch, der Zuschauer kann sich dem Sog nur ergeben. Da zieht Siegal schon den Stecker. Licht an im Zuschauer- raum, die erste Show ist vorbei. Schon zur Pause gab es Jubel.

Dann das Inferno. Von Dantes „Göttlicher Komödie“hat sich Siegal anregen lassen, seine Tänzer in die Hölle der Gegenwart zu jagen, in eine Sphäre, in der alles um sich selbst kreist. Jetzt lässt Hoesch elektronis­che Rotoren schaben. Dazu drehen die Tänzer in edlen weißen Hemdchen, die längs der Rippen zerschnitt­en sind, unendliche Pirouetten – Haute-Couture-Skelette auf der Spirale in den Abgrund.

Manchmal zerschredd­ert Stroboskop-Licht die Szenerie. Auf dem Boden stehen jetzt LED-Bildschirm­e, die grelles Licht verströmen. Einmal verlassen alle Tänzer die Bühne, Buchstaben rollen über die Bildschirm­e: Für die Auserwählt­en das Paradies, für die Verstoßene­n das Inferno. Es geht um Geschöpfe, die sich selbst disziplini­eren, um erwählt zu werden, die aus der Masse treten wollen – und sich gerade darin ähneln.

Am Ende bricht Corey Scott-Gilbert, der expressivs­te Tänzer eines hervorrage­nden Ensembles vor dem groben Lichtraste­r eines Bildschirm­s zusammen. Ein erschöpfte­r Einzelner ergibt sich dem Terror der Bilder. Ein Höllenaben­d auf Zeche Zollverein. Er erzählt von uns.

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FOTO: KAUFMANN Tanz in Skelettkos­tümen bei der Ruhrtrienn­ale in „Model“.

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