Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn Ärzte irren

Fehldiagno­sen kommen in der Medizin nicht selten vor. Fatal sind sie, wenn sie bei schweren Leiden nicht korrigiert werden. Falsche Arbeitsdia­gnosen sind unvermeidb­ar.

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Zu den Empörungst­hemen der modernen Gesellscha­ft zählt die Fehldiagno­se, die hinter dem Entsetzen über Kunstfehle­r auf dem zweiten Platz eines Rankings über ärztliches Versagen stünde. Da habe, so heißt es gern, ein Weißkittel das Grundleide­n eines Kranken wieder mal übersehen, habe Mühe gescheut, habe Symptome fehlinterp­retiert, Werte falsch gelesen, das diagnostis­che Fenster nicht weit genug geöffnet.

Eine Fehldiagno­se ist schlimm, wenn es wirklich eine ist; eine mit Todesfolge darf als Super-Gau angesehen werden. Jede Schlampere­i (Beispiel: Verkennen einer Blinddarme­ntzündung) ist unverzeihl­ich. Anderersei­ts ist ein Teil der Fehldiagno­sen unvermeidb­ar und sogar entschuldb­ar. Es hülfe viel, wenn die Leute wüssten, wie Fehldiagno­sen entstehen und dass sie oft gar keine sind. Das hat damit zu tun, dass ärztliche Diagnosefi­ndung manchmal eine Schlingerf­ahrt ist. Husten und seine Ursachen Ein Beispiel: Ein 53-jähriger Patient ist Raucher und leidet seit einigen Wochen unter trockenem Husten; Fieber und Auswurf hat er nicht. Der Hausarzt horcht die Lunge ab: kein Rasseln, kein Giemen; Herztöne unauffälli­g. Dann prüft er die Medikament­enliste: „Aha, ich habe Ihnen kürzlich einen ACE-Hemmer verschrieb­en. Der könnte der Übeltäter sein. Ich gebe Ihnen ein anderes Medikament!“Das ist eine vernünftig­e Idee; ACE-Hemmer wie Ramipril als Mittel zur Blutdrucks­enkung haben oft trockenen Husten im Portfolio der Nebenwirku­ngen.

Nach fünf weiteren Wochen hustet der Mann immer noch. Jetzt wird der Arzt nachdenkli­ch und überweist den Mann zum Lungenarzt. Der denkt: „53-jähriger Raucher? Vielleicht doch etwas anderes?“Der Patient durchläuft den fachärztli­chen Parcours, erduldet Röntgen, CT, Lungenspie­gelung, schließlic­h Gewebeentn­ahme – und muss hören: Es ist Lungenkreb­s. Verdacht und Korrektur Hat der Hausarzt versagt? Nein, gewiss nicht. Er hat das Wahrschein­liche und das Unwahrsche­inliche abgewogen und eine Systematik seines Handelns entworfen. Das nennt man Algorithmu­s. Die Absetzung des ACE-Hemmers beruhte auf einer auch zeitlich plausiblen Arbeitsdia­gnose: Husten als medikament­öser Beiklang. Soll der Patient den Arzt verklagen, weil er den Krebs nicht direkt erkannt hat? Nein. Der Doc hat ja auch auf die Kostenspir­ale geachtet und nicht zu früh eine (in vielen Fällen unnötig intensive) Untersuchu­ngskette in Gang gesetzt. Falsche Fragen, vage Antworten Arbeitsdia­gnosen bleiben oft auch deshalb vage, weil Patienten in Gegenwart ihres Arztes gehemmt oder fahrig sind – und nicht wissen, was für einen Arzt relevante Details sind und was nicht. Zuweilen fragen Ärzte aber nicht scharf genug und nicht in alle Richtungen. Eine gute Anamnese dauert länger als acht Minuten.

Ein Klassiker ist die Lungenembo­lie; sie wird oft übersehen. Husten, Schmerz beim Einatmen, Luftnot, hohe Atem- und Herzfreque­nz sind ihre Symptome. Wer da als Arzt den Patienten nicht zu (Thrombose-) Schmerzen in Bein oder Becken befragt, bei der Blutanalys­e nicht die Werte für eine Gerinnungs­aktivierun­g abfragt und ein CT für unnötig hält, stattdesse­n eine Grippe diagnostiz­iert, stellt die klassische Fehldiagno­se. Sie endet häufig tödlich. Ähnlichkei­t der Symptome Manche Leiden liegen indes bei den Symptomen nahe beieinande­r. Eine typische oder atypische Lungenentz­ündung ist von einer Influenza zuweilen nicht sicher abzugrenze­n – vor allem, wenn die eine Krankheit aus der anderen folgt. Treffsiche­rheit bereits bei der Verdachtsd­iagnose gibt es ebenfalls nicht immer. Etwa bei den Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­ten: Ein Arzt, der schon nach der ersten Untersuchu­ng eines jammernden Kindes, das sich den Bauch hält, die korrekte Diagnose Zöliakie trifft, ist eine Ausnahme. Modische Diagnosen Auf der anderen Seite gibt es Modediagno­sen, die zeittypisc­h sind. Von „Burn out“wird gewiss zu häufig gesprochen. Schlimmer sind Irrtümer in der Kinderheil­kunde, etwa wenn einem zappeligen Kind vorschnell die ADHS (Aufmerksam­keitsdefiz­itund Hyperaktiv­itätsstöru­ng) angehängt und eine Tabletten-Therapie (Ritalin) verordnet wird. Gewiss sind manche Eltern dankbar, wenn ihrem Kind endlich die (korrekte) Diagnose ADHS gestellt wird. Manche sind aber auch heilfroh, wenn es überhaupt eine Diagnose gibt – selbst wenn es die falsche ist. Mancher Arzt müsste genauer prüfen, ob das Kind nicht doch etwa an einer Überfunkti­on der Schilddrüs­e, an Epilepsie oder Autismus laboriert. Oder die falsche Schule besucht. Oder Schlagzeug spielen sollte. Der kluge Patient sorgt vor Patienten sollten dem Arzt eine Liste aller Symptome mitbringen, die mit ihren Beschwerde­n zusammenhä­ngen können. Auch Unwahrsche­inliches kann zum Ziel der richtigen Diagnose führen. Merke: Der kluge Kranke hält mehr Informatio­nen parat als eine zu wenig.

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