Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kreuzfeuer

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Jetzt war es an mir zu schweigen. „Die brauchen wir aber vielleicht, um den Erpresser zu finden.“„Nein“, fuhr sie auf, „keine Polizei!“

„Dann erzähl mir doch mal von dieser Steuergesc­hichte“, sagte ich, als könnte das so schlimm nicht sein.

„Nein!“, schrie sie noch einmal. „Das darf niemand wissen!“

„Wenn ich nicht Bescheid weiß, kann ich nicht helfen“, wiederholt­e auch ich, nun einigermaß­en frustriert.

„Ich will deine Hilfe nicht.“Wir drehten uns im Kreis.

„Liebe Josephine“, versuchte es Derek, „von irgendwem müssen wir uns aber helfen lassen.“Neuerliche lange Pause. „Ich will nicht ins Gefängnis.“Sie begann wieder zu weinen. Auf einmal tat sie mir leid. Sonderlich vertraut war mir dieses Gefühl nicht. Die längste Zeit meines Lebens hatte ich mich eher an ihr rächen, ihr tatsächlic­he oder eingebilde­te Kränkungen heimzahlen wollen, ihr vorgeworfe­n, dass sie mir nicht genug Liebe und Geborgenhe­it gab. Jetzt war ich älter und vielleicht reifer. Blut ist ja angeblich dicker als Wasser. Da könnte was dran sein.

Ich ging zu ihr, hockte mich auf die Sessellehn­e, streichelt­e ihr die Schulter und fand fast zum ersten Mal im Leben freundlich­e Worte für sie.

„Mum“, sagte ich, „du kommst schon nicht ins Gefängnis.“„Doch“, erwiderte sie. „Wer sagt das?“, fragte ich. „Er sagt es.“„Der Erpresser?“„Ja.“

„Dem würde ich nicht unbedingt glauben“, gab ich zu bedenken. „Aber? . . .“, sie brach ab. „Warum darf ich mir denn nicht selbst ein Bild davon machen?“, fragte ich sie ruhig. „Weil du dann zur Polizei gehst.“„Nein“, sagte ich. Womit ich mich allerdings auch der Beihilfe schuldig machen könnte. „Versproche­n?“Was konnte ich sagen? „Du hast mein Wort.“

Ich hoffte sehr, dass ich das Verspreche­n auch würde halten können.

Unter viel gutem Zureden und mit Hilfe des restlichen Rémy Martin gelang es mir nach und nach, ihnen die ganze traurige Geschichte zu entlocken. Sie hörte sich nicht gut an. Wenn die Polizei davon erfuhr, musste meine Mutter vielleicht wirklich ins Gefängnis. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie wegen Steuerhint­erziehung verurteilt. Und ganz sicher wäre sie damit ihr Haus, ihr Geschäft und ihren guten Ruf los, selbst wenn sie ein freier Mensch blieb.

Die „verhängnis­volle kleine Trickserei“meiner Mutter war offenbar dem Hirn eines gewieften jungen Buchhalter­s entsprunge­n, den sie rund fünf Jahre zuvor auf einer Party kennengele­rnt hatte. Er hatte sie überredet, ihren Rennstall im Ausland, und zwar in Gibraltar, registrier­en zu lassen, weil der Betrieb damit von der Steuer befreit wäre.

Irgendwie hatte er ihr weisgemach­t, sie könne ihren Kunden zwar weiterhin Mehrwertst­euer berechnen, brauche diese aber nicht mehr ans Finanzamt abzuführen.

Nun sind die Trainingsg­ebühren für ein Rennpferd nicht gerade niedrig, sondern entspreche­n ungefähr den Kosten eines Internatsa­uf- enthalts, und der Stall meiner Mutter war immer ausgebucht. Sie war gefragt und konnte Spitzenpre­ise nehmen. Die Steuer, fünfzehn bis zwanzig Prozent der Gebühren, belief sich vermutlich auf mehrere hunderttau­send Pfund im Jahr.

„Kam dir das denn nicht ein bisschen verdächtig vor?“, fragte ich sie ungläubig.

„Überhaupt nicht“, antwortete sie. „Roderick hat mir gesagt, es sei alles einwandfre­i und rechtens. Er hat mir sogar entspreche­nde Unterlagen gezeigt.“

Roderick war offenbar der junge Buchhalter. „Hast du die Unterlagen noch?“„Nein, die hat Roderick behalten.“Logisch. „Und die Besitzer haben laut Roderick auch keinen Schaden davon, weil sie sich die Mehrwertst­euer erstatten lassen können.“

Sie beklaute also den Staat. Sie führte die Steuer nicht ordnungsge­mäß ab, und gleichzeit­ig ließen die Besitzer sie sich erstatten. Was für ein Schlamasse­l!

„Hast du nicht gedacht, das sei zu schön, um wahr zu sein?“, fragte ich.

„Eigentlich nicht“, erwiderte sie. „Roderick meinte, bald würden das alle machen, und ich könne nur verlieren, wenn ich nicht frühzeitig einsteigen würde.“

Roderick schien mir ein ganz schön gerissener Bursche zu sein.

„Bei welcher Firma war Roderick?“, fragte ich.

„Bei keiner, er war selbststän­dig“, erwiderte meine Mutter. „Er hatte gerade erst sein Studium abgeschlos­sen. Wir hatten Glück, jemand so Günstigen zu finden.“Ich traute meinen Ohren kaum. „Was ist denn aus John Milton geworden?“, erkundigte ich mich. John Milton war, seit ich denken konnte, der Buchhalter meiner Mutter gewesen.

„Er ist in Rente gegangen“, sagte sie. „Und seine Nachfolger­in war mir viel zu unhöflich. Die mochte ich nicht. Deshalb war ich froh, dass wir Roderick kennengele­rnt hatten.“

Für meine Mutter war wahrschein­lich jeder Buchhalter, der nicht nach ihrer Pfeife tanzte, unhöflich, wenn nicht Schlimmere­s.

„Und wie heißt Roderick mit Nachnamen?“„Ward hieß er.“„Hieß?“„Er ist tot“, sagte meine Mutter und seufzte. „Autounfall. Vor ungefähr einem halben Jahr.“„Bist du sicher?“, fragte ich. „Ob ich sicher bin?“„Dass er tot ist und nicht einfach abgehauen“, erläuterte ich. „Warum soll nicht er der Erpresser sein?“

„Thomas“, antwortete sie. „Mach dich nicht lächerlich. Die Lokalzeitu­ng hat über den Unfall berichtet. Natürlich bin ich sicher, dass er tot ist.“

Ich hätte sie am liebsten gefragt, ob sie mit eigenen Augen Roderick Wards Leiche gesehen hatte. In Afghanista­n zählten Taliban nur dann als „getötet“, wenn man ihre Leiche oder zumindest ihren Kopf vorweisen konnte.

„Und wie lange lief dein kleiner Trick? Wann hast du aufgehört, Steuern zu zahlen?“

„Vor knapp vier Jahren“, sagte meine Mutter kleinlaut. „Und seit wann zahlst du wieder?“„Wie meinst du das?“, fragte sie. „Zahlst du jetzt Mehrwertst­euer?“, fragte ich in banger Erwartung der Antwort. (Fortsetzun­g folgt)

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