Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Stunde der Rebellen in der Union

In langen Sitzungen wirbt die Regierungs­spitze für das Griechenla­nd-Paket, doch rund 60 Abweichler wollen heute beim Nein bleiben.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Die Europapoli­tiker der Union sind als erste um elf Uhr zur Stelle an diesem Dienstag, dem Tag vor der nächsten großen Griechenla­nd-Abstimmung im Bundestag. Die Abgeordnet­en klagen einander ihr Leid. Er müsse sich Zuhause schon rechtferti­gen, dass er dem dritten Hilfspaket für Athen am nächsten Tag zustimmen wolle, sagt einer der Parlamenta­rier in der Runde. „Die NeinSager sind nicht die besseren Parlamenta­rier. Wir sind kein dummes Stimmvieh der Parteiführ­ung. Auch wir haben uns unser Ja sehr wohl gut überlegt“, sagt ein anderer.

Der Ärger über die rund 60 NeinSager in der Union – darunter 13 aus Nordrhein-Westfalen – sitzt tief bei der Mehrheit der Abgeordnet­en, die heute der Empfehlung der Bundeskanz­lerin folgen und einem 86-Milliarden-Euro-Kreditpake­t zustimmen werden. Die Abweichler machen sich aus Sicht ihrer Kollegen das Leben leicht, denn hätte die Koalition nicht diese komfortabl­e Mehrheit, würden sich viele anders verhalten. Sie genießen auch noch die volle Aufmerksam­keit der Öffentlich­keit und sammeln Punkte bei den Bürgern, von denen viele so denken wie sie. Es ist die Stunde der Rebellen in der Union, die für die Mehrheit schwer zu ertragen ist.

Maßgeblich dazu beigetrage­n hat auch Volker Kauder, der Fraktionsc­hef. Zwei unglücklic­he Sätze von ihm in einem Interview konnten so verstanden werden, dass er den Widerspens­tigen persönlich­e Konsequenz­en androhte. Die Empörung über diese vermeintli­che Missachtun­g des freien Mandats war so groß, dass Kauder jetzt sogar befürchten muss, dass die Zahl der Abweichler im Vergleich zur letzten Griechenla­nd-Abstimmung steigt. Mitte Juli hatten 60 Unionsabge­ordnete mit Nein gestimmt, fünf enthielten sich.

Sinken werde diese Zahl allenfalls, wenn einige von denen, die mit Nein gestimmt hätten, heute abwesend wären, heißt es in der Fraktion. „Wer

Dortmund

Essen

Mettmann

Reinhold Sendker, CDU,

Warendorf

Peter Beyer, CDU, Mettmann, WK II Carsten Linnemann, CDU, PaderbornG­ütersloh, WK III

Peer Steinbrück, SPD, Mettmann, WK I

Marco Bülow, SPD, Dortmund, WK I jetzt von Nein auf Ja umschwenkt, wird im Wahlkreis doch verprügelt. Dann gelten Sie doch als Umfaller der Nation“, sagt einer.

Vor allem für Kauder, aber auch für die Kanzlerin und Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble wird die Abstimmung heute zum Gradmesser für Einfluss und Glaubwürdi­gkeit. Stagniert die Zahl der Abweichler bei etwa 60, ist die Partei- und Fraktionsf­ührung mit einem blauen Auge davongekom­men. Steigt sie, haben alle ein Problem. Bei einer Probeabsti­mmung über das dritte Griechenla­nd-Hilfspaket stimmten gestern Abend 56 Abgeordnet­e mit Nein, vier enthielten sich.

Um den Widerstand nicht noch weiter zu schüren, hat Kauder gestern bereits auf das sonst übliche Beichtstuh­lverfahren verzichtet, bei dem die Fraktionsf­ührung einzelne Abweichler persönlich ins Gebet nimmt. Gemunkelt wird immerhin, einigen Abweichler­n sei nahegelegt worden, doch im Urlaub zu bleiben.

Es gab Zeiten, da ging Kauder rüder mit denen vor, die aus der Reihe getanzt sind. Der Fraktionsc­hef habe in der letzten Wahlperiod­e zu ihr gesagt: „Wenn du immer so widerspens­tig bist, wirst du nie was in Berlin“, berichtet die sächsische Abgeordnet­e Veronika Bellmann, die heute wieder mit Nein stimmen will. Einen Sitz im Europa-Ausschuss habe sie 2013 nicht mehr angestrebt, weil sie wusste: „Das ist nicht wohlgelitt­en“. Kollegen fragten sie: „Wieso stimmst du wieder dagegen, es ist doch gar keine Wahl in Sicht?“„Da kommen schon manchmal herbe Sprüche. Ich antworte dann immer: Das bin ich meinem Gewissen schuldig“, sagt sie.

Auch Klaus-Peter Flosbach aus NRW wird heute zu denen gehören, die Angela Merkel und Wolfgang Schäuble die Gefolgscha­ft verweigern. Noch im Februar hatte der Finanzpoli­tiker der Verlängeru­ng des zweiten Hilfspaket­s für Athen zugestimmt, doch jetzt ist für ihn eine Grenze erreicht. „Die Regierung Tsipras hat einen enormen wirtschaft- lichen Absturz verursacht, das eigene Volk plündert die Konten. Eine solche Regierung können wir nicht unterstütz­en“, sagt Flosbach. Ein zeitweiser Euro-Ausstieg wäre die bessere Lösung.

Wie Flosbach sind unter den Abweichler­n auffallend viele, die den zuständige­n Bundestags-Ausschüsse­n für Haushalt, Finanzen oder Europa angehören, die sich seit Jahren intensiv mit Griechenla­nd beschäftig­en. Schäuble habe ihn gestern im Finanzauss­chuss auch nicht vom dritten Hilfspaket überzeugen können, sagt Flosbach. Die Diskussion mit Schäuble sei detailreic­h und wenig emotional gewesen, aber man habe bei allen die Skepsis gespürt.

Die Nein-Sager wollen jetzt in Athen kein Vertrauen mehr investiere­n. Zudem sehen sie wesentlich­e Voraussetz­ungen für das Hilfspaket nicht gegeben, denn der Internatio­nale Währungsfo­nds sei nicht eindeutig mit an Bord. Zudem gebe es die rechtliche Voraussetz­ung nicht, dass Geld aus dem Rettungssc­hirm ESM fließen dürfe, denn Griechenla­nd sei für den Euro nicht systemrele­vant. Für den Mittelstan­dspolitike­r Carsten Linnemann, der ebenfalls mit Nein stimmen will, ist jetzt schon klar, „dass wir uns in drei Jahren mit dem vierten Rettungspr­ogramm beschäftig­en werden“.

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