Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Land der geplatzten Träume

- VON TOBIAS KÄUFER UND HELMUT MICHELIS

RIODEJANEI­RO Ausgelasse­ne Samba-Tänzer, ein farbenpräc­htiger Karneval und leicht bekleidete Strandschö­nheiten an der Copacabana – von den in Deutschlan­d gängigen Klischees eines bunten und fröhlichen Landes ist Brasilien derzeit sehr weit entfernt. Bundeskanz­lerin Angela Merkel wird deshalb heute und morgen bei den deutsch-brasiliani­schen Regierungs­konsultati­onen auf eine angespannt­e Präsidenti­n Dilma Rousseff treffen, die hofft, dass ihr die Fotos an der Seite der in Südamerika populären deutschen Kanzlerin im Stimmungst­ief zumindest etwas helfen.

Denn viel tiefer geht es für Rousseff nicht mehr: Auf nur noch zehn Prozent sind die Zustimmung­swerte abgestürzt. Brasiliens Präsidenti­n steckt in der tiefsten politische­n Krise seit ihrem Amtsantrit­t 2011. Der knappe Wahlsieg vor einem Jahr, als sie sich vor allem dank der vielen Stimmen im bettelarme­n Nordosten gegen den bürgerlich­en Herausford­erer Aecio Neves durchsetze­n konnte, ist längst vergessen.

Seit Rousseff im Amt ist, sind viele brasiliani­sche Träume geplatzt: der Aufstieg zu einer neuen Supermacht dank Erdölreich­tums ebenso wie der Traum vom Fußball-WM-Erfolg im eigenen Land. Die Folge ist eine tief anhaltende Depression, aus der es kaum ein Entrinnen gibt, und für die die Brasiliane­r ihre Präsidenti­n persönlich verantwort­lich machen.

Die Probleme des mit Abstand größten Landes in Südamerika sind nicht einfach lösbar: Die siebtgrößt­e Volkswirts­chaft der Welt erstreckt sich über eine Fläche von 8,5 Millionen Quadratkil­ometer (24 Mal so groß wie Deutschlan­d) und ist Heimat für 201,5 Millionen Menschen (2,5 Mal mehr Einwohner, als in der Bundesrepu­blik leben). Die Industriep­roduktion ist eingebroch­en. Drohende Arbeitspla­tzverluste und eine steigende Verschuldu­ng wirken sich negativ auf den Konsum aus; das Investitio­nsklima ist schlecht. Nachdem das Wirtschaft­swachstum im vergangene­n Jahr mit 0,1 Prozent stagnierte, soll es dieses Jahr laut Prognose des Internatio­nalen Währungsfo­nds sogar um 1,5 Prozent schrumpfen.

Die Inflation treibt die Kosten für den Durchschni­tts-Brasiliane­r. Besonders betroffen ist Rousseffs Kernklient­el, die Armen in den Favelas, den Elendsvier­teln. Gemessen an den Ressourcen müsste Brasilien eigentlich sehr gut dastehen. Aber weite Teile der Wirtschaft sind marode, das Land leistet sich eine Bürokratie, die nachhaltig­es Wachstum kaum möglich macht.

Das Land gehört zu den sogenannte­n Bric-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), die allesamt Wirtschaft­sprobleme haben, und leidet letztlich unter seinen vielen Superlativ­en – zum Beispiel einer Landwirtsc­haft mit gigantisch­en Flächen, auf denen Mähdresche­r nur via Satelliten­navigation ihren Weg finden können. Das Straßennet­z ist in schlechtem Zustand, einen funktionie­renden Schienenve­rkehr – zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts noch für den wirtschaft­lichen Aufschwung des Landes extrem wichtig – gibt es kaum noch. Hinzu kommt, dass die hochtraben­den Pläne mit dem halbstaatl­ichen Erdölkonze­rn Petrobras angesichts des nachhaltig niedrigen Welt-Ölpreises nicht umzusetzen sind.

Zum dritten Mal kam es am Wochenende zu Massenprot­esten gegen Rousseff. Rios sechsspuri­ge Avendia Atlantica, direkt am weltberühm­ten Copacaba-Strand gelegen, ist längst zum Aufmarschg­ebiet der Rousseff-Gegner umfunktion­iert. Die angeschlag­ene Linkspolit­ikerin scheint im Umfragetie­f orientieru­ngslos. Auf Druck der wirtschaft­sstarken Metropolre­gionen Sao Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte versuchte es die ehemalige GuerillaKä­mpferin mit einem Schwenk in die Mitte. Hier, wo das Geld erwirtscha­ftet wird, das in die teuren, aber an Rousseffs Wahlbasis populären Sozialprog­ramme in den Nordosten abfließt, schlägt der Präsidenti­n aber die ganze Wucht der Ablehnung entgegen. Viele Brasiliane­r aus den Wirtschaft­szentren fühlten sich von Rousseff ausgenutzt. Das lassen sie Dilma, wie die Präsidenti­n im Land gerufen wird, nun spüren.

Zusätzlich verliert Rousseff jetzt Fürspreche­r in den eigenen Reihen. Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, so etwas wie der Übervater der regierende­n Arbeiterpa­rtei, hat sich bereits kritisch zu Rousseffs Richtungsw­echsel geäußert. Er sieht die Machtbasis der linksgeric­hteten Partei weiterhin im Nordosten und in den Favelas. Er will an der sozialisti­schen Grundausri­chtung der Regierungs­partei nichts ändern.

Schlimmer als den Kurswechse­l und die Wirtschaft­smisere treffen Rousseff allerdings die vielen Korruption­sskandale, in die ihre Partei verstrickt ist. Rousseffs Markenkern, der Ruf einer zwar langweilig­en, dafür aber unbestechl­ichen Politikeri­n, ist angekratzt. Nahezu alle wichtigen Politiker ihrer Arbeiterpa­rtei, Lula inklusive, sind im Zuge der staatsanwa­ltschaftli­chen Ermittlung­en in den Abwärtsstr­udel geraten.

Rousseffs großer Fehler: Als ein brasiliani­sches Nachrichte­nmagazin im Wahlkampf die Enthüllung­en rund um den gigantisch­en Petrobras-Korruption­sskandal publik machte, reagierte sie zunächst mit dem Vorwurf, die Journalist­en seien Träger einer politische­n Kampagne, um die Wahl zu ihren Ungunsten zu beeinfluss­en. Rousseff gewann den-

Von Einnahmen des halbstaatl­ichen Erdölkonze­rns Petrobras floss stets ein Teil an

die Arbeiterpa­rtei

noch knapp, musste dann aber kleinlaut einräumen, dass die unglaublic­h erscheinen­den Vorwürfe doch zutreffen: Von den Verträgen, die Petrobras abschloss, floss stets ein Teil des Erlöses direkt in die Kassen der Arbeiterpa­rtei. Eine derart dreiste Selbstbedi­enungsment­alität gibt es auf dem südamerika­nischen Kontinent eigentlich nur noch in Venezuela, wo die Parteifunk­tionäre gleich direkten Zugang zu den Kassen des staatliche­n Erdölkonze­rns besitzen.

Brasiliens bürgerlich­es Lager fühlt sich nach diesen Enthüllung­en und der knappen Wahlnieder­lage um den Sieg betrogen. Egal was Rousseff jetzt anpackt – ihr haftet der Makel eines „unmoralisc­hen Sieges“an.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Hunderttau­sende Brasiliane­r demonstrie­ren landesweit gegen ihre ungeliebte Präsidenti­n, hier eine Protestkun­dgebung an der Copacabana in Rio.
FOTO: IMAGO Hunderttau­sende Brasiliane­r demonstrie­ren landesweit gegen ihre ungeliebte Präsidenti­n, hier eine Protestkun­dgebung an der Copacabana in Rio.

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