Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kreuzfeuer

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Natürlich nicht. Wenn ich jetzt wieder damit anfinge, würden sie doch Fragen stellen.“Wie hatte sie überhaupt damit aufhören können, ohne dass Fragen gestellt wurden? Es war zweifellos nur eine Frage der Zeit, bis eine Prüfung kam. Und vier Jahre nicht bezahlte Mehrwertst­euer bedeuteten in der Summe wahrschein­lich eine Steuerschu­ld von fast einer Million Pfund. Ihre Sorge, sie könnte ins Gefängnis kommen, war ganz berechtigt.

„Wer macht denn jetzt deine Buchführun­g? Seit Roderick Wards Tod?“

„Niemand“, sagte sie. „Ich hatte Angst, jemanden damit zu beauftrage­n.“Zu Recht, dachte ich bei mir. „Kannst du die Steuer nicht nachzahlen?“, fragte ich. „Wenn du alle Schulden begleichst und erklärst, dass dein Buchhalter dich irregeführ­t hat, wird dich keiner ins Gefängnis stecken.“

Meine Mutter fing wieder an zu weinen.

„Für die Nachzahlun­g fehlt uns das Geld“, sagte Derek an ihrer Stelle düster.

„Aber ihr müsst doch dadurch eine ganze Menge Mehreinnah­men gehabt haben. Was ist damit?“, fragte ich. „Alles weg“, antwortete er. „Unmöglich. Das war doch bestimmt fast eine Million.“„Mehr.“„Und wo ist es dann geblieben?“„Wir haben ziemlich viel ausgegeben“, sagte er. „Anfangs hauptsächl­ich für Urlaub. Und Roderick hat natürlich auch seinen Teil bekommen.“Natürlich. „Und der Rest?“

„Einiges ist an den Erpresser gegangen.“Er hörte sich müde und resigniert an. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, wo das alles geblieben ist. Wir haben nur noch etwa fünfzigtau­send auf der Bank.“Das war immerhin ein Anfang. „Und wie viel sind das Haus und die Ställe wert?“, fragte ich.

Meine Mutter sah mich entsetzt an.

„Liebe Mutter“, sagte ich freundlich, aber bestimmt, „wenn ich dich vor dem Gefängnis bewahren soll, müssen wir eine Möglichkei­t finden, die Steuern zu bezahlen.“

„Du hast versproche­n, dass du nicht zur Polizei gehst.“

„Tu ich auch nicht. Aber wenn du wirklich meinst, dass das Finanzamt nicht irgendwann dahinterko­mmt, irrst du dich. Die prüfen. Und es ist viel besser für dich, wenn wir zu ihnen gehen, bevor sie zu dir kommen.“„O Gott.“Ich schwieg und ließ ihr Zeit, diese unangenehm­e Wahrheit zu begreifen. Sie musste so gut wie ich gewusst haben, dass die Steuerprüf­er der Finanzverw­altung Ihrer Majestät wenig Mitleid mit Leuten hatten, die den Staat zu hintergehe­n suchten. Man konnte sie nur für sich einnehmen, indem man alles offen zugab und das Geld zurückzahl­te – und zwar, bevor sie es einfordert­en.

„Nicht, wenn ich in Rente gehe“, sagte sie plötzlich. „Wenn ich in Rente gehe, erfährt das Finanzamt gar nichts.“

„Aber Josephine“, wandte mein Stiefvater ein, „darüber haben wir doch schon gesprochen. Wie willst du ihn bezahlen, wenn du in Rente gehst?“

Ich war mir indessen nicht so sicher, ob in Rente zu gehen eine so gute Idee wäre. Zumindest würde sie den Betrug dann nicht fortsetzen, und mit dem Verkauf ihres Besitzes könnte sie vielleicht das nötige Geld aufbringen.

Die Überzeugun­g meiner Mutter, dass das Finanzamt dann nichts erfahren würde, teilte ich allerdings nicht. Im Gegenteil, damit könnte sie erst die Aufmerksam­keit wecken, die sie vermeiden wollte.

Insgesamt war es ein schöner Schlamasse­l, und ich wusste keinen schnellen Ausweg.

Meine Mutter und mein Stiefvater gingen um neun ins Bett, angeschlag­en von zu viel Brandy, erschütter­t davon, dass ihr Geheimnis keines mehr war und dass ihnen einschneid­ende Veränderun­gen bevorstand­en – und nicht unbedingt zum Besseren.

Ich ging auch in mein Zimmer, aber nicht schlafen.

Vorsichtig zog ich meinen Stumpf aus der Beinprothe­se. Keine leichte Aufgabe, da ich zu viel herumgelau­fen war und unterhalb des Knies Wasser im Bein hatte. Wenn ich nicht aufpasste, konnte es passieren, dass ich das verflixte Ding am Morgen nicht mehr anbekam.

Ich schob ein Kissen unter den Stumpf, damit die angestaute Flüssigkei­t ablaufen konnte, legte mich lang und dachte nach.

Meine Mutter und mein Stiefvater steckten offensicht­lich bis zum Hals in Schwierigk­eiten, und mit jedem weiteren Tag rutschten sie tiefer in den Sumpf.

Theoretisc­h zumindest war die Lösung für ihr Problem einfach: das Geld aufbringen, die aufgelaufe­nen Steuern zahlen und eine Steuererkl­ärung nachreiche­n, die Erpressung anzeigen und dann beten, dass ihnen verziehen wurde.

So hätte der Erpresser sie nicht mehr in der Hand, und vielleicht schnappte ihn die Polizei sogar und fand noch einen Teil des erpressten Geldes, aber darauf hätte ich nicht gewettet.

Als Erstes galt es also, eine Million Pfund für den Fiskus aufzubring­en.

Leichter gesagt als getan. Eine Bank ausrauben?

Widerstreb­end hatten meine Mutter und mein Stiefvater zugegeben, dass das Haus und der Rennstall selbst in der gegenwärti­gen Immobilien­krise etwa zweieinhal­b Millionen Pfund bringen könnten, wenn sie Glück hatten. Allerdings gab es einen Haken dabei. Das Haus war stark hypothekar­isch belastet, und der Stall hatte als Sicherheit für einen Geschäftsk­redit gedient.

Ich dachte an das kurze Gespräch zurück, das ich mit Derek noch geführt hatte, nachdem meine Mutter schon nach oben gegangen war.

„Wie viel freies Kapital habt ihr also?“„Rund fünfhunder­ttausend.“Mich wunderte, dass es nicht mehr war. „Der Trainingsb­etrieb hat doch sicher jahrelang gutes Geld abgeworfen.“

„So lukrativ ist das auch wieder nicht, und deine Mutter hat die Gewinne immer in den Ausbau investiert.“

„Und wieso steckt dann so wenig freier Kapitalwer­t in dem Ganzen?“

„Roderick hat uns geraten, mehr Kredit aufzunehme­n“, sagte er. „In Immobilien festliegen­des Kapital war seiner Ansicht nach unnütz. So würde es nicht richtig für uns arbeiten, meinte er.“

„Und was hat er euch vorgeschla­gen?“

„Dass wir es in einem Investment­fonds anlegen, von dem er ganz begeistert war.“(Fortsetzun­g folgt)

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