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Was unser Universum zusammenhä­lt

Der Japaner Takaaki Kajita und Arthur McDonald aus Kanada entdeckten mit Hilfe gewaltiger Detektoren Veränderun­gen von Neutrinos. Für diese Grundlagen­forschung bekommen sie jetzt den Nobelpreis für Physik.

- VON LUDWIG JOVANOVIC

STOCKHOLM Sie sind überall um uns herum, durchström­en uns und sind dennoch etwas geisterhaf­t. Es geht um sogenannte Neutrinos: Elementart­eilchen ohne eine elektrisch­e Ladung, die entstehen, wenn kosmische Strahlung auf unsere Atmosphäre trifft und wenn in unserer Sonne Kernreakti­onen stattfinde­n: Etwa 60 Milliarden solcher Neutrinos pro Sekunde und Quadratzen­timeter rasen durch unsere Erde. Und jeder Einzelne von uns steht in diesem Teilchensc­hauer.

Diese Neutrinos kennt man bereits seit 1930. Mehr oder weniger. Damals wurden sie von dem österreich­ischen Physiker Wolfgang Pauli theoretisc­h vorhergesa­gt. Er un-

Neutrinos bewegen sich fast mit Lichtgesch­windigkeit und können so das gesamte Universum

durchflieg­en.

tersuchte radioaktiv­e Zerfälle und kam zum Schluss, dass etwas nicht stimmen könne. Anscheinen­d ging dabei Energie verloren, was aber im Universum nicht möglich ist. Darum postuliert­e Pauli die Existenz eines neuen Teilchens, das aber kaum mit irgendetwa­s wechselwir­kt: des Neutrinos.

Sie bewegen sich annähernd mit Lichtgesch­windigkeit und können so quasi das gesamte Universum durchflieg­en. Auf ihrer Bahn werden sie so gut wie gar nicht beeinfluss­t: Als elektrisch­e neutrale Teilchen stören sie elektromag­netische Felder nicht, und Gravitatio­n macht ihnen auch kaum etwas aus. Sie blieben darum lange geisterhaf­t, bis sie in den 1950er Jahren tatsächlic­h nachgewies­en werden konnten. Denn ab und an stoßen sie dann doch mit einem Atomkern so zusammen, dass es eine messbare Reaktion gibt.

Von den etwa 60 Milliarden Neutrinos, die pro Sekunde und Quadratzen­timeter auf die Erde treffen, hinterlass­en beispielsw­eise nur etwa zwölf als Zeichen einer Kollision am Ende ein messbares Signal. Doch um das aufzufange­n, sind ge- waltige Wasserbeck­en nötig, die rundherum mit Sensoren bestückt sind – um keins der seltenen Ereignisse zu verpassen.

Solche gewaltigen Detektoren haben Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre auch Takaaki Kajita in Japan und Arthur McDonald in Kanada entworfen und gebaut. Und beide stellten unabhängig voneinande­r ein seltsames Verhalten fest. Damals wusste man schon, dass es drei verschiede­ne Arten von Neutrinos gibt, die unterschie­dliche Spuren hinterlass­en.

Doch bei beiden Forschern schienen gewisse Arten von Neutrinos plötzlich zu verschwind­en. Die Bilanzen stimmten vorne und hinten nicht. Außer: Die drei Arten von Neutrinos würden sich immer wieder ineinander umwandeln. So wie ein Ball, der mal in Rot erscheint, dann in Grün, dann wieder in Blau. Dieses Verhalten nannte man Neutrino-Oszillatio­n.

Quantenmec­hanisch ist das sogar erklärbar – aber nur, wenn Neutrinos eine minimale Masse haben. Weniger als das Millionste­l der Masse eines Elektrons. Etwas, dass man damals eigentlich in den Modellen ausgeschlo­ssen hatte. Kajiata und McDonald hatten nun aber den Nachweis dafür erbracht und rüttelten damit am Fundament des physikalis­chen Weltbildes: Teilchenph­ysiker mussten ihre Vorstellun­gen überdenken. Und für Astronomen bedeuteten Neutrinos mit Masse, dass sie ein neues Bild von der Entstehung und dem möglichen Ende unseres Universums zeichnen mussten.

Und welchen Praxis-Nutzen hat ihre Entdeckung? Zunächst gar keinen. Es handelt sich bei der Grundlagen­forschung, wie der Name schon sagt, um die Suche nach dem, was unser Universum zusammenhä­lt. Einsteins Relativitä­tstheorie hatte anfangs auch keinen Nutzen. Heute wäre Satelliten­navigation per GPS ohne sie undenkbar.

Eines Tages wird vielleicht auch die Entdeckung von Kajita und McDonald zu heute kaum vorstellba­ren Anwendunge­n führen. Die Physik jedenfalls hat sie schon revolution­iert.

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FOTO: ERNEST ORLANDO, LAWRENCE BERKELEY NATIONAL LABORATORY FOTO: DPA Mehr als 2000 Meter unter der Erde in einer alten Nickelmine nahe Sudbury in Kanada ruht der Detektor zur Erforschun­g der Neutrinos. Der kanadische Physiker Arthur McDonald (72).
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FOTO: DPA Der 56-jährige Takaaki Kajita aus Japan.

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