Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Kreuzfeuer
Vorsätzlicher, kaltblütiger Mord war eine ziemlich drastische Handlungsweise, und meine Entführung und Freiheitsberaubung waren zweifellos kaltblütig und überlegt durchgeführt worden. Niemand trägt ein äthergetränktes Handtuch mit sich herum, weil es nützlich sein könnte, wenn man mal jemanden betäuben muss, und niemand hat Kabelbinder, eine verzinkte Kette und ein Vorhängeschloss parat für den Fall, dass einmal jemand an die Wand zu ketten ist. Meine Entführung aus dem Parkhaus war ebenfalls genau geplant und in die Tat umgesetzt worden, und ich ging nicht davon aus, dass viel forensisches Beweismaterial zu finden war, das auf die Täter hinwies.
Würden sie also überhaupt noch mal nach den Früchten ihrer Arbeit schauen? Wenn sie wiederkamen, riskierten sie, belastende Spuren zu hinterlassen oder gesehen zu werden. Würden sie nicht einfach annehmen, dass ich tot war?
Aber wie war das noch? Annahmen sind dazu da, geprüft zu werden.
Die Sonne ging kurz nach fünf unter, und mit ihr sank die Temperatur.
Ich wartete weiter, und es kam immer noch niemand. Verschwendete ich meine Zeit? Gut möglich, dachte ich, aber was sollte ich sonst damit anfangen? Immerhin war ich an der frischen Luft, statt auf dem Bett zu liegen und die Stuckdecke in meinem Zimmer anzustarren.
Ich trampelte ein bisschen herum, um die Zehen am linken Fuß aufzuwärmen. Die Phantomzehen rechts hatten schon wieder Backofentemperatur. Sehr langweilig, das Ganze.
Als das Handy mir sagte, dass es neun Uhr war, entschloss ich mich, Feierabend zu machen und zu Ian zurückzukehren, bevor er ins Bett ging und mich aussperrte. Ich hatte nicht vorgehabt, die ganze Nacht in Greystone Stables zu bleiben. Eine Vierundzwanzigstundenwache war zu viel für einen allein. Ein paarmal war ich am Abend schon beinah eingenickt, und ein schlafender Posten war schlimmer als gar keiner.
Ich steckte meinen Säbel wieder in die Scheide und beides in die Pappröhre, die ich mir über die Schulter hängte.
Auf halber Höhe der Zufahrt vergewisserte ich mich, dass das Stöckchen noch am Stein lehnte. Gut. Wegen des auffrischenden Windes stellte ich ein paar Meter weiter unten noch eins auf.
Abgesehen von diesem recht kühlen Wind war es ein schöner Abend mit einer Unmenge leuchtender Sterne am tiefschwarzen Himmel. Doch die Nacht würde kalt werden. Die warme Wolkendecke der vergangenen Tage war verweht. In der Luft lag schon jetzt ein Frost, der meinen Atem zu weißen Nebelwölkchen vor meinem Gesicht werden ließ, als ich zum Tor hinunterging.
Ich wollte gerade über den Zaun steigen, als ich auf der Straße nach Wantage die Scheinwerfer eines Wagens sah, der aus Richtung Lambourn kam. Ich dachte mir nichts dabei. Die Straße war nicht gerade viel befahren, aber drei oder vier Autos waren schon am Tor vorbeigefahren, während ich die Zufahrt hinunterging.
Da ich es jedoch nicht für klug hielt, beim Übersteigen des Zauns gesehen zu werden, legte ich mich in das hohe Gras und wartete, dass der Wagen vorbeifuhr. Aber er fuhr nicht vorbei. Er bog von der Straße ab und hielt am Tor. Die Scheinwerfer gingen aus, und ich sah zwar nicht, aber hörte, wie der Fahrer ausstieg und die Tür schloss.
Ich lag etwa zehn Meter entfernt still mit dem Gesicht nach unten im Gras. Die Röhre mit dem Säbel war greifbar, aber ich hätte ihn nicht ziehen können, ohne meinen Standort zu verraten.
Ich hob den Kopf ein wenig, konnte aber nichts erkennen. Nach dem grellen Scheinwerferlicht hatten sich meine Augen noch nicht wieder an die Dunkelheit gewöhnt, und wahrscheinlich war sowieso die Steinsäule zwischen mir und dem Fahrer.
Ich schloss fest die Augen und horchte.
Die Kette klirrte, als sie zwischen den Torstangen herausgezogen wurde. Der da gekommen war, hatte den Schlüssel für das Vorhängeschloss dabei. Es war in der Tat mein Feind.
Ich hörte das Tor leise quietschen, als es aufgestoßen wurde.
Wieder riskierte ich einen Blick, doch die offene Autotür versperrte mir die Sicht auf den zum Wagen zurückkehrenden Fahrer. Da ich in einer flachen Mulde lag, konnte ich nur wenig über die Zufahrt hinausschauen. Unmöglich, aus diesem Blickwinkel zu sehen, wer es war.
Der Motor sprang an, und die Scheinwerfer wurden wieder eingeschaltet.
Ich war sicher, der Wagen würde die Zufahrt hinauffahren, doch ich irrte mich.
Er setzte zurück und fuhr wieder in Richtung Lambourn davon. Schnell kniete ich mich hin. Hätte ich meine SA80 zur Hand gehabt, hätte ich das Fahrzeug ohne weiteres mit ein paar Schuss stoppen können. So aber kniete ich nur im Gras und hörte mein Herz laut klopfen.
Den Feind hatte ich nicht identifiziert, aber trotz der Dunkelheit meinte ich die Automarke erkannt zu haben, wenn auch nicht die Farbe.
„Und – was hat meine Mutter gesagt?“, fragte ich Ian, als ich zurück in seiner Wohnung in Kauri House Stables war. „Wozu denn?“„Wo ich stecke.“„Ach so. Da hat sie sich recht vage ausgedrückt. Sie sagte nur, dass Sie weg sind.“
„Und was haben Sie geantwortet?“, fasste ich nach.
„Wie Sie’s wollten. Ich hab gefragt, wo Sie denn hin sind.“Er schwieg. „Und?“„Sie hat gemeint, das ginge mich nichts an.“Ich lachte. „Und weiter?“„Ich hab ihr wie gewünscht gesagt, Sie hätten einen Stift bei mir liegenlassen, als Sie hier die Pferderennen geschaut haben, und den wollte ich Ihnen geben.“Mehr kam schon wieder nicht. „Und?“„Sie meinte, ich solle den Stift ihr geben, sie gäbe ihn dann weiter. Weil Sie nämlich unverhofft nach London beordert worden seien und sie nicht wüsste, wann Sie wiederkämen. Das hätte nicht in Ihrem Brief gestanden.“
„Meinem Brief?“, fragte ich überrascht.
„Ja. Mrs. Kauri sagte, Sie hätten ihr geschrieben.“„Aus London?“
(Fortsetzung folgt)