Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Sündenbock USA
BERLIN Zur Übergabe von 3,3 Millionen Protest-Unterschriften gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP in Brüssel haben sich die deutschen Aktivisten in dieser Woche eine lustige Aktion ausgedacht: Sie warfen die Unterschriften so lange in eine Waage, bis die Bürgerstimmen schwerer wogen als die „Säcke mit Konzerninteressen“auf der anderen Seite. In Scheck-Form wurden die Unterschriften anschließend einem Vertreter der EU-Kommission übergeben. Noch nie hat eine europäische Bürgerinitiative so viele Unterzeichner gehabt wie diese.
Heute machen sich in Berlin und anderen deutschen Städten wieder Zehntausende auf den Weg, um gegen die geplante „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“(TTIP) der EU mit den USA zu protestieren. Kein außenpolitisches Thema hat seit dem Nato-Doppelbeschluss in den frühen 80er Jahren so viele Menschen mobilisiert wie dieses. Dauer, Ausmaß und Radikalität der Proteste werfen die Frage auf, ob nicht auch Rechnungen beglichen werden sollen, für die TTIP nur eine willkommene Chiffre ist.
Umfragen zeigen, dass das AmerikaBild außer in vielen muslimischen Ländern nirgendwo schlechter ist als in Deutschland. Die USA gelten vielen Deutschen als machtgierig, überheblich und rücksichtslos. Dass die LinkenAnhänger von allen noch am schlechtesten von den USA denken, lässt erahnen, wie die Klassenfeind-Ideologie bei denen nachwirkt, die in der DDR aufgewachsen sind. Demokratie und Bürgerrechte werden aber nach gesamtdeutscher Meinung in den USA wenig geachtet. Dieser Eindruck hat sich durch die NSA-Affäre nochmals vertieft.
Mit der größten Volkswirtschaft verbinden viele einen ungezügelten Kapitalismus, in dem Weltkonzerne über Wohl und Wehe der Menschheit, des Planeten entscheiden, ohne dass sich ihnen eine politische Macht noch entgegenstellen würde. „Zum Antiamerikanismus gesellt sich die Globalisierungskritik. TTIP wird als Symbol für den Siegeszug des Neoliberalismus gesehen. Und das verbinden viele wiederum mit den USA“, sagt Frank Decker, Politikwissenschaftler an der Universität Bonn. „Das ist vor allem die alte Anti-Globalisierungs-Bewegung, die jetzt gegen TTIP auf die Straße geht. Da schwingt auch eine Menge antiamerikanischer Ressentiments mit, aber die emotionale Motivation ist die Globalisierungskritik. Da sehen viele die Amerikaner als treibende Kraft“, sagt auch Axel Berger vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn.
Vergessen wird dabei gern, dass gerade Deutschland von der Globalisierung profitiert hat wie kein vergleichbares Land. Export-Vizeweltmeister kann man nicht sein, wenn man der Welt nur Gutes bringt. Globalisierungskritiker müssten sich also viel mehr auch gegen die heimischen Weltmarktführer richten, doch ein latent antiamerikanischer Reflex zwingt sie anscheinend, den Blick immer wieder vor allem gegen die USA zu richten.
„Die Vereinigten Staaten müssen hier die klassische Sündenbock-Funktion übernehmen. Europa dagegen wird als Zivilmacht gesehen. Das ist ein Vorteil, denn so kann man als Europäer den USA die Drecksarbeit übertragen und es sich bequem machen“, beobachtet Politikexperte Decker. „Gerade die Linke beschuldigt einseitig die USA für Globalisierungseffekte, dabei hat Europa genauso viel damit zu tun.“Würde man „dieselben Leute, die heute gegen TTIP demonstrieren, fragen, ob sie auch gegen die NSA oder den Irak-Krieg auf die Straße gegangen wären, würden sie das wohl bejahen“, glaubt Decker.
Protestorganisationen wie Campact helfen und nützen diese Stimmungsbilder für ihr florierendes Protestbusiness. Campact lebt davon, schnell und effek-
„Der Skandal bei Volkswagen räumt mit dem Mythos auf, dass in Europa alles besser wäre“
Klaus Müller
Vorstand der Verbraucherzentrale