Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Türkei ist Merkels letzter Trumpf im Flüchtlingsdrama
Für die Bundeskanzlerin ist die Türkei die entscheidende Größe, die Zahl der Flüchtlinge zu mindern. Sie ist bereit, Präsident Erdogan politisch und finanziell weit entgegenzukommen.
BERLIN Es wird eng für Angela Merkels offene Flüchtlingspolitik. Der Vorsitzende der Schwesterpartei droht mit Verfassungsklage, die SPD geht angesichts begrenzter Möglichkeiten auf Distanz. Die Kanzlerin weiß, dass die Zahl der Flüchtlinge nicht weiter anschwellen darf. Das wird ohne eine Schließung der deutschen Grenzen nur dann gelingen, wenn die Türkei, in der rund zwei Millionen Syrer Zuflucht gefunden haben, ihrerseits den Flüchtlingen ein Stück Freizügigkeit nimmt. Der Staat am Bosporus wird damit zur entscheidenden Größe in Merkels Strategie.
Sie hat ihren Ton gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bereits geändert: Statt auf Religionsfreiheit, demokratische Regeln und Minderheitenschutz zu pochen, betont die Kanzlerin die enge Zusammenarbeit mit dem Nato-Partner. „Es gibt nur eine Lösung mit der Türkei“, lautet das Credo der deutschen Regierungschefin. Bei ihrem Besuch der UNGeneralversammlung Ende September hat sie sich für den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu besonders viel Zeit genommen. Sie braucht von der Türkei ein Signal der Begrenzung, um ihrer grundsätzlich offenen Politik ein Fundament zu geben. Sie nennt es die Aufnahme eines migrationspolitischen Dialogs.
Im Grunde genommen ist es ihre letzte Karte, die Flüchtlingskrise auch in Deutschland zu steuern. Denn bislang ist es den Deutschen nicht gelungen, eine europäische Lösung zu finden. Die deutschfranzösische Achse funktioniert in der Flüchtlingskrise nicht, weil die Franzosen schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht bereit sind, große Mengen an Flüchtlingen aufzunehmen. Bislang konnte sich Europa nur auf die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen einigen. So viele kommen mittlerweile in einem Monat nach Deutschland. Für Deutschland wäre es wichtig, dass in Europa ein klares Quotensystem mit Auffangeinrichtungen, den sogenannten Hotspots, an den EUAußengrenzen in Griechenland und Italien eingeführt wird, über das die Flüchtlinge dann nach einem gerechten Schlüssel in Europa verteilt werden.
Doch da die Deutschen mit ihrem Anliegen in Europa nicht recht vorankommen, hofft man auf eine schnelle Lösung mit den Türken. Die Verhandlungen werden diskret geführt, da es auch um viel Geld und möglicherweise mehr politische Anerkennung für die Türkei geht. Je deutlicher Deutschland öffentlich seine Abhängigkeit machen würde, desto höher stiege auch der Preis für eine Einigung.
Und die Türken verlangen schon jetzt einen hohen Preis: Erdogan fordert von Europa die Beteiligung an einer gemeinsamen Haltung gegenüber den Fluchtursachen im Bürgerkriegsland Syrien. Dazu gehört aus türkischer Sicht zum einen eine kräftige finanzielle Unterstützung aus Brüssel – Ankara hat für die Versorgung der Flüchtlinge nach eigenen Angaben bisher 7,5 Milliarden Dollar ausgegeben, von der internationalen Staatengemeinschaft aber nur rund 400 Millionen Dollar an Hilfe erhalten. Das Angebot der EU von Mitteln bis zu einer Milliarde Euro wird von Ankara abgelehnt, da das Geld teilweise aus Mitteln kommen soll, die für den türkischen EU-Beitrittsprozess vorgesehen waren. Und mit Geld allein, das haben die Türken schon klar gemacht, werden sie nicht zu ködern sein. „Es ist die defensivste Strategie“, weiß auch Merkel.
Deshalb sind die politischen Forderungen der Türkei noch wichtiger. Ankara will für das Projekt einer Schutzzone im Norden Syriens europäische Unterstützung. Zugleich wirbt der Staat in Kleinasien mit dem Bau von drei Containersiedlungen für 300.000 rückkehrwillige syrische Flüchtlinge, die auf diese Weise sicher in ihrem eigenen Land angesiedelt werden könnten. Doch der Plan ist völkerrechtlich und militärisch sehr umstritten.
Ankara verlangt auch die Aufhebung des Visumszwangs für Türken und war schon vor Beginn der derzeitigen Flüchtlingskrise bereit, im Gegenzug dafür alle Flüchtlinge wieder aufzunehmen, die über türkisches Territorium in die Europäische Union gelangen. Europa will einer völligen Visumsfreiheit für Türken aber erst nach langen Übergangsfristen zustimmen. Das könnte sich angesichts der zugespitzten Flüchtlingskrise schnell ändern. Merkel ist jedenfalls zu unkonventionellen Lösungen bereit. Sogar die Aussicht auf eine schnellere EUMitgliedschaft könnte urplötzlich dazugehören.