Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Türkei ist Merkels letzter Trumpf im Flüchtling­sdrama

Für die Bundeskanz­lerin ist die Türkei die entscheide­nde Größe, die Zahl der Flüchtling­e zu mindern. Sie ist bereit, Präsident Erdogan politisch und finanziell weit entgegenzu­kommen.

- VON MARTIN KESSLER, EVA QUADBECK UND THOMAS SEIBERT

BERLIN Es wird eng für Angela Merkels offene Flüchtling­spolitik. Der Vorsitzend­e der Schwesterp­artei droht mit Verfassung­sklage, die SPD geht angesichts begrenzter Möglichkei­ten auf Distanz. Die Kanzlerin weiß, dass die Zahl der Flüchtling­e nicht weiter anschwelle­n darf. Das wird ohne eine Schließung der deutschen Grenzen nur dann gelingen, wenn die Türkei, in der rund zwei Millionen Syrer Zuflucht gefunden haben, ihrerseits den Flüchtling­en ein Stück Freizügigk­eit nimmt. Der Staat am Bosporus wird damit zur entscheide­nden Größe in Merkels Strategie.

Sie hat ihren Ton gegenüber dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan bereits geändert: Statt auf Religionsf­reiheit, demokratis­che Regeln und Minderheit­enschutz zu pochen, betont die Kanzlerin die enge Zusammenar­beit mit dem Nato-Partner. „Es gibt nur eine Lösung mit der Türkei“, lautet das Credo der deutschen Regierungs­chefin. Bei ihrem Besuch der UNGeneralv­ersammlung Ende September hat sie sich für den türkischen Ministerpr­äsidenten Ahmet Davutoglu besonders viel Zeit genommen. Sie braucht von der Türkei ein Signal der Begrenzung, um ihrer grundsätzl­ich offenen Politik ein Fundament zu geben. Sie nennt es die Aufnahme eines migrations­politische­n Dialogs.

Im Grunde genommen ist es ihre letzte Karte, die Flüchtling­skrise auch in Deutschlan­d zu steuern. Denn bislang ist es den Deutschen nicht gelungen, eine europäisch­e Lösung zu finden. Die deutschfra­nzösische Achse funktionie­rt in der Flüchtling­skrise nicht, weil die Franzosen schon aus wirtschaft­lichen Gründen nicht bereit sind, große Mengen an Flüchtling­en aufzunehme­n. Bislang konnte sich Europa nur auf die Verteilung von 120.000 Flüchtling­en einigen. So viele kommen mittlerwei­le in einem Monat nach Deutschlan­d. Für Deutschlan­d wäre es wichtig, dass in Europa ein klares Quotensyst­em mit Auffangein­richtungen, den sogenannte­n Hotspots, an den EUAußengre­nzen in Griechenla­nd und Italien eingeführt wird, über das die Flüchtling­e dann nach einem gerechten Schlüssel in Europa verteilt werden.

Doch da die Deutschen mit ihrem Anliegen in Europa nicht recht vorankomme­n, hofft man auf eine schnelle Lösung mit den Türken. Die Verhandlun­gen werden diskret geführt, da es auch um viel Geld und möglicherw­eise mehr politische Anerkennun­g für die Türkei geht. Je deutlicher Deutschlan­d öffentlich seine Abhängigke­it machen würde, desto höher stiege auch der Preis für eine Einigung.

Und die Türken verlangen schon jetzt einen hohen Preis: Erdogan fordert von Europa die Beteiligun­g an einer gemeinsame­n Haltung gegenüber den Fluchtursa­chen im Bürgerkrie­gsland Syrien. Dazu gehört aus türkischer Sicht zum einen eine kräftige finanziell­e Unterstütz­ung aus Brüssel – Ankara hat für die Versorgung der Flüchtling­e nach eigenen Angaben bisher 7,5 Milliarden Dollar ausgegeben, von der internatio­nalen Staatengem­einschaft aber nur rund 400 Millionen Dollar an Hilfe erhalten. Das Angebot der EU von Mitteln bis zu einer Milliarde Euro wird von Ankara abgelehnt, da das Geld teilweise aus Mitteln kommen soll, die für den türkischen EU-Beitrittsp­rozess vorgesehen waren. Und mit Geld allein, das haben die Türken schon klar gemacht, werden sie nicht zu ködern sein. „Es ist die defensivst­e Strategie“, weiß auch Merkel.

Deshalb sind die politische­n Forderunge­n der Türkei noch wichtiger. Ankara will für das Projekt einer Schutzzone im Norden Syriens europäisch­e Unterstütz­ung. Zugleich wirbt der Staat in Kleinasien mit dem Bau von drei Containers­iedlungen für 300.000 rückkehrwi­llige syrische Flüchtling­e, die auf diese Weise sicher in ihrem eigenen Land angesiedel­t werden könnten. Doch der Plan ist völkerrech­tlich und militärisc­h sehr umstritten.

Ankara verlangt auch die Aufhebung des Visumszwan­gs für Türken und war schon vor Beginn der derzeitige­n Flüchtling­skrise bereit, im Gegenzug dafür alle Flüchtling­e wieder aufzunehme­n, die über türkisches Territoriu­m in die Europäisch­e Union gelangen. Europa will einer völligen Visumsfrei­heit für Türken aber erst nach langen Übergangsf­risten zustimmen. Das könnte sich angesichts der zugespitzt­en Flüchtling­skrise schnell ändern. Merkel ist jedenfalls zu unkonventi­onellen Lösungen bereit. Sogar die Aussicht auf eine schnellere EUMitglied­schaft könnte urplötzlic­h dazugehöre­n.

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