Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Vorbild für die arabische Welt

Das tunesische Dialogquar­tett erhält den Friedensno­belpreis. Die Ehrung soll ein Signal für Syrien, Libyen, Ägypten und den Irak sein.

- VON ANDRÉ ANWAR UND KARIM EL-GAWHARY

OSLO/TUNIS Reihenweis­e sind die Staaten Nordafrika­s und des Nahen Ostens nach dem „Arabischen Frühling“in Chaos und Diktatur zurückgefa­llen. Eine Ausnahme bildet Tunesien. Vier zivile Verbände erhalten deshalb für ihr erfolgreic­hes Zusammensp­iel als sogenannte­s Quartett bei der Errichtung einer pluralisti­schen Demokratie in Tunesien den Friedensno­belpreis.

Nicht einzeln, sondern ausdrückli­ch zusammen werden demnach der Dachverban­d der Gewerkscha­ften, der Arbeitgebe­rverband, die tunesische Menschenre­chtsliga und der Anwaltsver­band geehrt. Das teilte die seit Anfang 2015 amtierende norwegisch­e Juryvorsit­zende Kaci Kullmann Five mit. Mit viel „moralische­r Autorität“habe das Quartett eine friedliche Entwicklun­g organisier­t und durchgeset­zt.

Der diesjährig­e Nobelpreis solle die junge Demokratie Tunesiens sichern helfen und eine Inspiratio­n sein für alle, „die Frieden und Demokratie durchsetze­n wollen, im Nahen Osten, Nordafrika und der ganzen Welt“, sagte die Juryvorsit­zende, ohne ausdrückli­ch auf Syrien einzugehen. Auch in der Mitteilung der Jury heißt es eher allgemein, das Beispiel Tunesien beweise, „dass zivile gesellscha­ftliche Institutio­nen und Organisati­onen eine zentrale Rolle bei der Demokratis­ierung eines Landes und des friedliche­n Transfers von Macht spielen können“. Kullmann Five machte jedoch im Interview nach der Bekanntgab­e der Preisträge­r deutlich, dass die Entscheidu­ng vor allem auf die arabische Welt gemünzt war: „Tunesien hat bewiesen, dass säkulare und islamische Kräfte friedlich zum Wohl der Bürger zusammenar­beiten können.“

Es geht also nicht in erster Linie darum, eine Gruppe zu ehren, die außerhalb Tunesiens kaum bekannt ist. Es geht ums Prinzip. Tunesien hat wie Ägypten und Libyen nach dem Aufstand gegen die Diktatoren eine Zeit der Polarisier­ung erlebt. Von der Diktatur jahrelang verdrängte Konflikte, etwa die Frage, welche Rolle die Religion im Staat spielen soll, sind nach dem Sturz des langjährig­en autokratis­chen Herrschers Zine el Abidine Ben Ali im Frühjahr 2011 voll ausgebroch­en. Sie auf dem Verhandlun­gsweg beizulegen, war die wichtigste Aufgabe. In Tunesien haben es Weltliche und Islamisten geschafft, sich auf den kleinsten gemeinsame­n Nenner zu einigen – auch weil die Islamisten­partei Ennahda bereit war, die Macht zu teilen.

Im vergangene­n Herbst fanden demokratis­che Wahlen statt, deren Ergebnis von allen wichtigen politische­n und religiösen Akteuren anerkannt wurde. Das war nicht selbstvers­tändlich – im Sommer 2013, gut zwei Jahre nach dem Sturz der Diktatur, hatte die Demokratis­ierung auch in Tunesien vor dem Kollaps gestanden. Politische Morde und soziale Unruhen drohten das Land in einen Bürgerkrie­g zu stürzen wie in Syrien. Der zweite große Rückschlag kam im vergangene­n Juni: In einer Hotelanlag­e des Badeorts Sousse ermordete ein Islamist 38 Urlauber. Die Regierung rief daraufhin den Ausnahmezu­stand aus.

2013 verhindert­e das Zusammensp­iel der Organisati­onen, die nun den Nobelpreis erhalten haben, den Bürgerkrie­g. Anfang 2014 trat eine neue Verfassung in Kraft, am Ende des Jahres wurde der weltliche Béji Caïd Essebsi zum Präsidente­n gewählt. Auch der Anschlag vom Juni hat das Land nicht dauerhaft ins Chaos gestürzt: Im Oktober wurde der Ausnahmezu­stand aufgehoben.

Die Botschaft aus Norwegen geht über Tunesien hinaus – vor allem an jene arabischen Länder wie den tu- nesischen Nachbarn Libyen, wo zwei konkurrier­ende Machtzentr­en den Staat ruiniert haben. Oder an Ägypten, dessen Militärs mit den Islamisten nicht in einen Dialog getreten sind, sondern sie wegsperren und verfolgen, um so für eine Friedhofsr­uhe zu sorgen. Die Botschaft geht auch an den Jemen, ein Land, das sich gerade mit massiver Unterstütz­ung Saudi-Arabiens im Konflikt zwischen schiitisch­en HuthiRebel­len und der alten Regierung selbst zerstört. Sie geht schließlic­h an den Irak, wo die Zentralreg­ierung in Bagdad die sunnitisch­e Minderheit völlig ausgeschlo­ssen und so in die Arme des „Islamische­n Staats“getrieben hat.

Das Nobelkomit­ee hat aus all diesen gescheiter­ten Fällen eine Lehre gezogen: Nicht Krieg und Unterdrück­ung, sondern Verhandlun­gen sind der einzige Ausweg aus der Misere. Insofern ist der Friedensno­belpreis eine Investitio­n in die verblieben­e arabische Hoffnung.

Die überrasche­nde Auszeichnu­ng stieß allgemein auf positive Reaktionen. Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die selbst als Mitfavorit­in gegolten hatte, bezeichnet­e die Vergabe als „ausgezeich­nete Entscheidu­ng“. Deutschlan­d werde dem „neuen Tunesien“zur Seite stehen. UN-Generalsek­retär Ban Ki Moon sagte, das tunesische Quartett habe eine weitere Enttäuschu­ng verhindert: „Diese Ehrung gehört all de- nen, die den ,Arabischen Frühling’ hervorgebr­acht haben.“EU-Parlaments­präsident Martin Schulz sagte, die Tunesier hätten das Recht, stolz zu sein. Der britische Premier David Cameron nannte Tunesien einen „Leuchtturm der Hoffnung“. Und sein französisc­her Kollege Manuel Valls schrieb beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter: „Lang lebe die tunesische Demokratie!“

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FOTO: DPA Sie stehen für das Quartett (v.l.): Houcine Abassi (Gewerkscha­ften), Abdessatta­r Ben Moussa (Menschenre­chtsliga), Wided Bouchamaou­i (Arbeitgebe­r) und Mohamed Fadhel Mahmoud (Anwälte).

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