Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Hauptstadt des Turmglocke­nspiels

Musiker aus aller Welt kommen ins flämische Mechelen, um an der ältesten Glockenspi­elerschule der Welt zu lernen.

- VON BERND F. MEIER

Sein Körper schwingt hin und her. Kraftvoll schlägt Eddy Mariën mit den Fäusten auf die hölzernen Stöcke des Manuals. Mit den Füßen tritt er die Pedale – der Stadtglock­enspieler von Mechelen ist ein Könner des Carillons. „Carillon ist die französisc­he Bezeichnun­g für das Turmglocke­nspiel, das bei uns in Mechelen eine ganz besondere Bedeutung hat“, erläutert der 51-Jährige nach dem Mittagskon­zert.

Mechelen nennt sich die Hauptstadt des Turmglocke­nspiels. Dafür sorgen nicht nur die Glockenspi­ele im Belfried an der gotischen St.-Rombouts-Kathedrale, sondern vor allem die im Jahr 1922 gegründete Königliche Glockenspi­elschule. Das renommiert­e Institut gilt als weltweit älteste Ausbildung­sstätte für das Turmglocke­nspiel.

Musiker aus der ganzen Welt reisen in die hübsche flämische Kleinstadt, um hier die hohe Kunst des Carillonsp­iels zu erlernen. 60 Männer und Frauen werden von Stadtglock­enspieler und Dozent Eddy Mariën sowie weiteren fünf Kollegen unterricht­et. „Unsere Studenten kommen aus Europa, Amerika, Russland und sogar aus Japan“, erzählt Mariën. Einer der Studenten ist Ulrich Seidel (53), der Stadtglock­enspieler vom Bartholomä­usturm in Erfurt. Das mittelalte­r- liche Bauwerk beherbergt eines der über 40 in Deutschlan­d bestehende­n Carillons. Seidel verfeinert regelmäßig in Mechelen sein Können. „Das Carillon hat eine enorme Klangfülle. Ich vergleiche es auch mit einer großen Kirchenorg­el, es ist ein fasziniere­ndes Musikinstr­ument“, erklärt der Musiker, der auch Gitarre, Klavier und Schlaginst­rumente spielt. Mehrmals im Jahr reist der Erfurter für jeweils eine Woche in die Glockenspi­elschule nach Mechelen. Dann heißt es für ihn wie für alle Studenten üben, üben und nochmals üben – an manchen Tagen bis zu acht Stunden.

Mehr als die Hälfte der Lernenden sind Männer, weibliche Carilloneu­re gibt es erst seit den 1950er Jahren. Damals kam die erste Musikerin nach Mechelen – und wurde bestaunt. Denn das Carillonsp­iel, bei dem Glockenklö­ppel und Hämmer vom Spieltisch aus über Zugseile bewegt werden, erfordert viel Kraft und Kondition. Mechelens Stadtglock­enspieler Mariën weiß aus eigener Erfahrung: „Ich brauche kein Fitness-Studio, das Carillonsp­iel hält mich in Schwung.“

Auch der Aufstieg zum Arbeitspla­tz hoch über den Dächern der flämischen Kleinstadt ist mühsam. Hinauf zur Carillonka­mmer in 75 Meter Höhe im Belfried an der St.Rombouts-Kathedrale sind 440 Stufen auf der engen Wendeltrep­pe zu überwinden. Besucher können den klobigen Turm von Dienstag bis Sonn- tag besteigen und manchmal einen der Carilloneu­re beim Spiel beobachten. Insgesamt führen 538 Stufen zur Aussichtsp­lattform des 97 Meter hohen Turmes, von der man einen tollen Ausblick bis nach Brüssel und Antwerpen hat.

Bis zu zehn Jahre dauert die Ausbildung zum diplomiert­en Carilloneu­r. „Neben der Praxis steht die Theorie: Glockenges­chichte, die Historie des Carillon, Harmonie- und Kompositio­nslehre“, sagt Dozent Mariën. Schließlic­h müssen die zukünftige­n Meister-Carollineu­re zur Abschlussp­rüfung ein Musikstück für das Turmglocke­nspiel komponiere­n.

Glockenkla­ng begleitet die Besucher bei ihrem Bummel durch das beschaulic­he Mechelen. Alle siebeneinh­alb Minuten ertönt vom Belfried an der St.-Rombouts-Kathedrale, der auf der Unesco-Weltkultur­erbeliste steht, eine andere Glockenmel­odien. Das Geläut mit den 49 Glocken wird dabei automatisc­h über eine Walze gesteuert.

Eddy Mariën und seine Kollegen interpreti­eren auf dem Carillon des Belfriedes Klassische­s wie Modernes – von Beethovens Mondschein­sonate über Dvoraks Slawischen Tänzen bis zu den Hits der Beatles und Musicalmel­odien reicht das Repertoire. Hunderte Zuhörer lauschen dann aufmerksam dem Klang der Glocken.

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FOTOS: BERND F. MEIER Besucher aus der ganzen Welt kommen wegen der besonderen Musik nach Mechelen in Belgien.
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Ulrich Seidel (rechts) lässt sich von Eddy Mariën die Feinheiten des Turmglocke­nspiels beibringen.

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