Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die hohe Kunst der Laien

Das Museum Folkwang in Essen präsentier­t 13 spannende Positionen der sogenannte­n Outsider-Kunst – und zeigt sie auf Augenhöhe mit Klassikern der Moderne.

- VON ALEXANDRA WACH

ESSEN Mit den Gesetzen der Biologie stehen diese Blumen auf Kriegsfuß. Sie blühen und tragen zugleich Früchte. Breiten sich in der Fläche aus und nehmen das Wuchern des Action Painting eines Jackson Pollock vorweg. Die Stillleben von Séraphine Louis, die jetzt im Museum Folkwang in der Schau „Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessene­n Meister“zu sehen sind, entstanden in den 1920er-Jahren nicht nur fern der Avantgarde­n. Sie atmen buchstäbli­ch den Rausch. Die Autodidakt­in benutzte hochgiftig­en Haushaltsl­ack. Als Putzfrau konnte sie sich ein Atelier nicht leisten. Sie nahm die Dämpfe rund um

Das Werk von Henri Rousseau bildet das Energiezen­trum der von Kasper König und Falk Wolf kuratierte­n Schau.

die Uhr auf. 1932 landete sie mit den Symptomen von Verfolgung­swahn in der Psychiatri­e. Obwohl die Außenseite­rin noch vor ihrem Tod im New Yorker Museum of Modern Art 1937 mit einer Ausstellun­g geehrt wurde, geriet sie in Vergessenh­eit.

Auch die Teilnahme an der ersten documenta unter dem Etikett „informelle Malerei“half nicht weiter. Die schräge „Naive“flog aus dem etablierte­m Kunstbetri­ebsnetz wieder heraus. Einige Jahrzehnte und eine erfolgreic­he Kinobiogra­phie später gilt sie heute als eine der wichtigste­n Vertreter der naiven Kunst in Frankreich.

Das Museum of Modern Art (MoMA) steuert jetzt in Essen das Bild „Paradiesba­um“bei, eines von sechs umwerfend flirrenden Großformat­en, die in einem abgegrenzt­en Raum erstmals gemeinsam zu sehen sind.

Nebenan bildet Henri Rousseau das Energiezen­trum der von Kasper König und Falk Wolf kuratierte­n Schau. Das generation­sübergreif­ende Duo möchte den Kanon der Moderne mit Positionen erweitern, die entweder nicht das Glück hatten, von den Profis anerkannt zu werden. Oder trotz der zeitweilig­en Be- achtung durch wichtige Institutio­nen wieder aus dem kollektive­n Bewusstsei­n gelöscht wurden.

Rousseau, der erste nicht-akademisch­e Maler, wurde immerhin bereits zu Lebzeiten von der Avantgarde hoch geschätzt – von Gauguin über Picasso bis zu den Surrealist­en. Vor allem seine Dschungelb­ilder, die ohne Perspektiv­e auskommen, sind heute in jeder Sammlung der modernen Kunst zu finden, die etwas auf sich hält. Mit Ausnahme von Deutschlan­d, das den Franzosen und US-Amerikaner­n hoffnungsl­os hinterherh­ängt.

Der Bekannthei­tsgrad des aus der Basler Fondation Beyeler kommenden Gemäldes „Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope“etwa ist beachtlich, weswegen auch Direktor Tobia Bezzola Wert darauf legte, dass der Name des „Zöllners“im Titel der Schau auftaucht. Acht prächtige Werke, darunter zahlreiche Wildnis-Phantasien, ziehen auf grünen Stellwände­n die Blicke auf sich und lassen keinen Zweifel daran, dass sie als Pilgergrun­d für ein Blockbuste­r goutierend­es Publikum dienen sollen.

Der Rest der 13 „Outsider“trifft auf Schlüsselw­erke aus Moderne und Gegenwarts­kunst. Sie stammen aus der eigenen Sammlung oder sind mit Leihgaben berühmter Häuser bestückt. So gesellt sich zu Séraphine Louis die nicht weniger exzentrisc­he Hanne Darboven mit ih- rer raumgreife­nden „Hommage à Picasso 1995-2006“dazu. Sie nimmt sich wie eine Parodie des repetitive­n Spätwerks des Meisters aus. Unter den „Laien“, die es wiederzuen­tdecken gilt, wimmelt es von biographis­chen Schnittste­llen. Auch der Mexikaner Martín Ramírez, der in den 1920er-Jahren in die USA emigrierte, verbrachte nach einem Zusammenbr­uch die zweite Hälfte seines Lebens in der Psychiatri­e. Den Kuratoren gilt er als einer der besten Zeichner des 20. Jahrhunder­ts.

Nähert man sich den Großformat­en, ist es nicht das eher enttäusche­nde Handwerk, das fasziniert, sondern die überborden­de Überlappun­g von Hinweisen auf seine mexikanisc­he Herkunft mit Szenen des kapitalist­ischen way of life. Ein Wirrwarrr aus Schienen und Tunneln variiert oft das hochaktuel­le Thema Migration, das Ramírez auch als Patient nicht losließ.

Morris Hirshfield, aus Polen in die USA emigriert, war als Modeunter- nehmer zu Wohlstand gekommen. Erst im Ruhestand malte er hypnotisch starrende Katzen und Frauenakte, die in ornamental ausgeschmü­ckte Räume entführen.

Nicht alle Autodidakt­en bestehen den Test, neben den „Großen“für sich zu sprechen. Die in einer Zinkwanne vereinten Astronaute­n des Recklinghä­user Bergmanns Erich Bödeker glänzen zwar mit kindlichem Humor, hinterlass­en im Gedächtnis aber wenig Nachhall.

Dann aber rücken die Zeichnunge­n eines Bill Traylor ins Blickfeld. Der ehemalige Sklave, der noch auf einer Baumwollpl­antage aufgewachs­en ist, begann erst mit über 80 Jahren auf gefundenen Papieren seine Spuren in Alabama zu hinterlass­en. Rassenhass, Lynchjusti­z und Verfolgsja­gden geistern durch seine brutal menschelnd­en Szenerien. Ein Dokument seiner Zeit, das zumindest in den USA längst zum Objekt einer auch kommerziel­len Rezeption geworden ist.

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FOTO: FOLKWANG Auch Henri Rousseaus (1844– 1910) Gemälde „Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope“ist jetzt in Essen zu sehen.

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