Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die hohe Kunst der Laien
Das Museum Folkwang in Essen präsentiert 13 spannende Positionen der sogenannten Outsider-Kunst – und zeigt sie auf Augenhöhe mit Klassikern der Moderne.
ESSEN Mit den Gesetzen der Biologie stehen diese Blumen auf Kriegsfuß. Sie blühen und tragen zugleich Früchte. Breiten sich in der Fläche aus und nehmen das Wuchern des Action Painting eines Jackson Pollock vorweg. Die Stillleben von Séraphine Louis, die jetzt im Museum Folkwang in der Schau „Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister“zu sehen sind, entstanden in den 1920er-Jahren nicht nur fern der Avantgarden. Sie atmen buchstäblich den Rausch. Die Autodidaktin benutzte hochgiftigen Haushaltslack. Als Putzfrau konnte sie sich ein Atelier nicht leisten. Sie nahm die Dämpfe rund um
Das Werk von Henri Rousseau bildet das Energiezentrum der von Kasper König und Falk Wolf kuratierten Schau.
die Uhr auf. 1932 landete sie mit den Symptomen von Verfolgungswahn in der Psychiatrie. Obwohl die Außenseiterin noch vor ihrem Tod im New Yorker Museum of Modern Art 1937 mit einer Ausstellung geehrt wurde, geriet sie in Vergessenheit.
Auch die Teilnahme an der ersten documenta unter dem Etikett „informelle Malerei“half nicht weiter. Die schräge „Naive“flog aus dem etabliertem Kunstbetriebsnetz wieder heraus. Einige Jahrzehnte und eine erfolgreiche Kinobiographie später gilt sie heute als eine der wichtigsten Vertreter der naiven Kunst in Frankreich.
Das Museum of Modern Art (MoMA) steuert jetzt in Essen das Bild „Paradiesbaum“bei, eines von sechs umwerfend flirrenden Großformaten, die in einem abgegrenzten Raum erstmals gemeinsam zu sehen sind.
Nebenan bildet Henri Rousseau das Energiezentrum der von Kasper König und Falk Wolf kuratierten Schau. Das generationsübergreifende Duo möchte den Kanon der Moderne mit Positionen erweitern, die entweder nicht das Glück hatten, von den Profis anerkannt zu werden. Oder trotz der zeitweiligen Be- achtung durch wichtige Institutionen wieder aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht wurden.
Rousseau, der erste nicht-akademische Maler, wurde immerhin bereits zu Lebzeiten von der Avantgarde hoch geschätzt – von Gauguin über Picasso bis zu den Surrealisten. Vor allem seine Dschungelbilder, die ohne Perspektive auskommen, sind heute in jeder Sammlung der modernen Kunst zu finden, die etwas auf sich hält. Mit Ausnahme von Deutschland, das den Franzosen und US-Amerikanern hoffnungslos hinterherhängt.
Der Bekanntheitsgrad des aus der Basler Fondation Beyeler kommenden Gemäldes „Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope“etwa ist beachtlich, weswegen auch Direktor Tobia Bezzola Wert darauf legte, dass der Name des „Zöllners“im Titel der Schau auftaucht. Acht prächtige Werke, darunter zahlreiche Wildnis-Phantasien, ziehen auf grünen Stellwänden die Blicke auf sich und lassen keinen Zweifel daran, dass sie als Pilgergrund für ein Blockbuster goutierendes Publikum dienen sollen.
Der Rest der 13 „Outsider“trifft auf Schlüsselwerke aus Moderne und Gegenwartskunst. Sie stammen aus der eigenen Sammlung oder sind mit Leihgaben berühmter Häuser bestückt. So gesellt sich zu Séraphine Louis die nicht weniger exzentrische Hanne Darboven mit ih- rer raumgreifenden „Hommage à Picasso 1995-2006“dazu. Sie nimmt sich wie eine Parodie des repetitiven Spätwerks des Meisters aus. Unter den „Laien“, die es wiederzuentdecken gilt, wimmelt es von biographischen Schnittstellen. Auch der Mexikaner Martín Ramírez, der in den 1920er-Jahren in die USA emigrierte, verbrachte nach einem Zusammenbruch die zweite Hälfte seines Lebens in der Psychiatrie. Den Kuratoren gilt er als einer der besten Zeichner des 20. Jahrhunderts.
Nähert man sich den Großformaten, ist es nicht das eher enttäuschende Handwerk, das fasziniert, sondern die überbordende Überlappung von Hinweisen auf seine mexikanische Herkunft mit Szenen des kapitalistischen way of life. Ein Wirrwarrr aus Schienen und Tunneln variiert oft das hochaktuelle Thema Migration, das Ramírez auch als Patient nicht losließ.
Morris Hirshfield, aus Polen in die USA emigriert, war als Modeunter- nehmer zu Wohlstand gekommen. Erst im Ruhestand malte er hypnotisch starrende Katzen und Frauenakte, die in ornamental ausgeschmückte Räume entführen.
Nicht alle Autodidakten bestehen den Test, neben den „Großen“für sich zu sprechen. Die in einer Zinkwanne vereinten Astronauten des Recklinghäuser Bergmanns Erich Bödeker glänzen zwar mit kindlichem Humor, hinterlassen im Gedächtnis aber wenig Nachhall.
Dann aber rücken die Zeichnungen eines Bill Traylor ins Blickfeld. Der ehemalige Sklave, der noch auf einer Baumwollplantage aufgewachsen ist, begann erst mit über 80 Jahren auf gefundenen Papieren seine Spuren in Alabama zu hinterlassen. Rassenhass, Lynchjustiz und Verfolgsjagden geistern durch seine brutal menschelnden Szenerien. Ein Dokument seiner Zeit, das zumindest in den USA längst zum Objekt einer auch kommerziellen Rezeption geworden ist.