Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Giya Kancheli, der georgische Mystiker
Klassik-CD Dass der Mensch mitunter vom Saulus zum Paulus wird, merkt er auch bei seinem Umgang mit der Klassik. Wenn man etwa in der Bewertung vom Komponisten oder Interpreten seine Meinung grundlegend ändert, handelt es sich meistens um einen Fall von Reifung, von Generationen-Präferenz oder von momentaner Eingebung. Jedem ist es schon mehrfach passiert, dass er einen Tonsetzer in jüngeren Jahren für angeberisch, prahlerisch, kitschig und überhaupt unbedeutend hielt, bis er irgendwann, durch einen neuen klanglichen Kontakt belehrt, seine Meinung revidiert oder direkt ins Gegenteil verkehrt.
Man kann den Georgier Giya Kancheli selbstverständlich für einen Kitschier halten, der mit relativ simplen Mitteln große Wirkung erzielt. Also einen Mystiker, über den man sagen könnte, er gebäre Wirkung ohne Ursache. Aber die neue ECM-CD „Chiaroscuro“(mit Werken für Violinen und Kammerorchester) ist doch eine bannende, fesselnde Platte, der man mit wachsender Gewogenheit zuhört. Wer ist dieser Kancheli?
Er wurde vor 80 Jahren, im August 1935, als Sohn eines Arztes in Tiflis geboren. Er studierte zunächst Geologie, bevor er 1959 ans Konservatorium Tiflis wechselte, weil seine musikalische Begabung sozusagen überpräsent war. Dort studierte er bei Iona Tuskia Komposition. Anschließend arbeitete er als freischaffender Komponist, schuf Filmund Bühnenmusik. Von 1971 bis 1978 lehrte er am Konservatorium Tiflis. Seit 1991 lebt er im Westen, bevorzugt in Belgien.
Seine Musik entwickelt eine Sogkraft, der man sich nicht entziehen kann. Gewiss scheint Kancheli vordringlich an der Erzeugung von Atmosphäre interessiert, aber einem diffusen Vibrieren von Klängen. Wer genauer hinhört, entdeckt in dieser irisierenden Welt doch sehr expressive Muster, eine Leidenschaft für die Entäußerung, die Eruption. Von Gedusel ist etwa in „Twilight“, dem zweiten Werk der CD, nicht viel zu spüren. Die beiden Top-Geiger Gidon Kremer und Patricia Kopatchinskaja und die famose Kremerata Baltica gewähren eine suggestive Interpretation dieser beiden Kompositionen.
Wolfram Goertz