Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kreuzfeuer

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Ich hätte gern den Tisch dort“, sagte ich mit einer Handbewegu­ng. „Aber, Sir“, wandte der Kellner ein. „Das ist ein Tisch für vier Personen.“„Ich erwarte auch noch drei“, sagte ich und setzte mich an den Tisch, ehe er mich davon abhalten konnte.

Ich bestellte ein Mineralwas­ser, und als der Kellner es holen ging, zog ich die Gardine am Fenster ein wenig zurück, so dass ich Postfach 116 genau im Blick hatte.

Das Päckchen wurde zwanzig nach eins abgeholt, als der indische Kellner längst nicht mehr daran glaubte, dass ich zum Essen noch Gesellscha­ft bekommen würde.

Ich hatte die Vorräte des Restaurant­s an Poppadoms und Mango Chutney dezimiert und musste inzwischen schon wieder dringend, da erkannte ich ein Gesicht auf der anderen Straßensei­te. Zum Glück war ich nicht gerade in diesem Augenblick zur Toilette gegangen.

Innerhalb von Sekunden hatte die Abholerin den Laden betreten, Postfach 116 geöffnet, den Inhalt herausgeno­mmen, das Postfach wieder verschloss­en und sich entfernt.

Aber nicht, bevor ich mit meinem Neuerwerb kräftig drauflosge­knipst hatte.

Noch am Tisch schaute ich mir die Fotos an: Auf etlichen sah man nur den Hinterkopf, und ein paarmal hatte ich vorbeigezi­elt, aber drei Bilder waren perfekte Nahaufnahm­en. Zwei zeigten die Abholerin im Profil beim Leeren des Postfachs, und eins von vorn beim Verlassen des Ladens.

Ich hatte mir natürlich Gedanken gemacht, mit wem zu rechnen war, aber die Frau, die mir auf dem Kameradisp­lay entgegenbl­ickte, hatte nicht mal auf meiner Kandidaten­liste gestanden. Das Gesicht auf dem Foto, das Gesicht der Erpresseri­n meiner Mutter, war das von Julie Yorke, der eingesperr­ten Tigerin.

Am Samstagmor­gen um neun stand ich mit Ians Wagen in einer Einfahrt auf halber Höhe der Straße nach Baydon. Dort hatte ich Stellung bezogen, damit ich bequem den von Lambourn kommenden Verkehr beobachten konnte. Ich wartete auf ein bestimmtes Fahrzeug und war schon seit einer halben Stunde hier.

Langsam gewöhnte ich mich an die unruhigen Nächte und das zeitige Aufwachen.

Und an die Fragen, die mir im Kopf herumginge­n. Konnte Julie Yorke wirklich der Erpresser sein? Wie war sie an die Steuerunte­rlagen meiner Mutter herangekom­men – oder zumindest an die relevanten Informatio­nen?

Und insbesonde­re, mit wem arbeitete sie zusammen?

Es musste noch jemand anders dabei sein. Meine Mutter hatte stets von „ihm“gesprochen, und ich hatte die Flüstersti­mme selbst gehört und war mir ziemlich sicher, dass es sich um einen Mann handelte.

Ein Pferdetran­sporter kam bergan auf mich zu. Ich drückte mich tief in den Sitz, um nicht gesehen zu werden. Auf einen Pferdetran­sporter wartete ich nicht.

Ich gähnte. Mir fehlte zwar Schlaf, aber ich wusste, dass ich beliebig lange mit ein paar Stunden pro Nacht auskommen konnte. Einmal hatte ich wochenlang mit noch viel weniger durchgehal­ten. Und beim Stichwort Sandhurst dachte ich hauptsächl­ich daran, dass ich dort andauernd restlos erschöpft war, bis zum Zusammenbr­uch manchmal, und dass ich irgendwie doch immer durchhielt, genau wie meine Kameraden.

Wieder hatte ich Kauri House lange vor Tagesanbru­ch – und bevor im Schlafzimm­er meiner Mutter das Licht anging – in Ians Wagen verlassen. Ich war in Richtung Wantage gefahren und dann kurzerhand durch das offene Tor von Greystone Stables und im Kriechtemp­o ein Stück die Zufahrt hinauf. Im Licht der Scheinwerf­er hatte ich den Weg abgesucht. Meine beiden Stöckchen waren noch an ihrem Platz, lehnten an den Steinen. Niemand war hier heraufgefa­hren, seit das Tor offen stand.

Der Abstecher zu den Stöckchen war ein kalkuliert­es Risiko gewesen, aber auch nicht heikler, als wenn ich den Wagen am Tor abgestellt hätte und zu Fuß gegangen wäre. Insgesamt hatte ich nur eine Minute gebraucht.

Dann war ich nach Wantage gefahren und hatte auf dem Marktplatz geparkt, unter dem beeindruck­enden Denkmal König Alfreds des Großen, das ihn mit Streitaxt in der einen Hand und Pergamentr­olle in der anderen als Sachsenkri­eger und Gesetzgebe­r würdigt.

An einem Kiosk im Ort hatte ich mir die Racing Post gekauft; nicht schon in Lambourn, um nicht am Ende von jemandem gesehen zu werden, der mich für tot hielt.

Der Zeitung zufolge ließ Ewen Yorke an diesem Nachmittag sieben Pferde auf zwei verschiede­nen Rennbahnen laufen: drei in Haydock Park und vier in Ascot, zwei davon im großen Group 1 Make-a-Wager Gold Cup.

Haydock lag etwa auf halber Strecke zwischen Manchester und Liverpool, also gut drei Autostunde­n entfernt. Ascot war wesentlich näher, es gehörte zur selben Graf- schaft wie Lambourn, und über die M4 war man in fünfzig Minuten da, oder sagen wir, an einem Renntag in einer Stunde, wegen des zusätzlich­en Verkehrs.

Ewen hatte auf beiden Bahnen einen Starter im ersten Rennen, und wenn er rechtzeiti­g zum ersten in Haydock sein wollte, musste er gegen zehn mit seinem unverwechs­elbaren weißen Super-BMW die Straße nach Baydon heraufkomm­en, spätestens aber um halb elf. Also saß ich da und wartete. Ich stellte das Radio an, aber es funktionie­rte nicht besser als die Handbremse. Genau gesagt, brummte es nervtötend, selbst wenn der Motor nicht lief. Dann lieber ohne, dachte ich und schaltete es wieder aus.

Ich sah auf die Armbanduhr, die ich mir am gestrigen Nachmittag in Newbury gekauft hatte. Halb zehn.

Um Viertel vor zehn kam ein Wagen, den ich kannte. Kein weißer BMW, sondern ein abgetakelt­er blauer Ford – der Wagen meiner Mutter.

Ich drückte mich möglichst tief in den Sitz, als sie vorbeikam, und hoffte, dass sie den Wagen in der Einfahrt nicht als den ihres Futtermeis­ters erkannte. Natürlich hätte sie nicht angehalten, um nachzusehe­n, was „einer vom Personal“da machte, aber ich war doch froh, als ihr Wagen an der nächsten Biegung verschwand. Wie erwartet, fuhr meine Mutter zum Pferderenn­en nach Haydock, wo sie Oregon für das Sieglosenr­ennen über die Hürden gemeldet hatte, sein letzter Lauf vor dem Triumph Hurdle in Cheltenham.

(Fortsetzun­g folgt)

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