Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Biete: Schlauchbo­ot, 9,5 Meter, 45 Personen

- VON PHILIPP JACOBS

In den sozialen Netzwerken buhlen Schleuser mit Fotos teurer Jachten um Flüchtling­e, die oft bereit sind, viel Geld zu zahlen, um ins sichere Europa zu gelangen.

Mohammed Mohammed verkauft Hoffnung. „Assalamu alaykum“, Friede sei mit euch, grüßt er am 3. August seine Facebook-Gemeinde. Unter der arabischen Grußformel steht ein kurzer Satz: „Tägliche Reisen von der Türkei nach Griechenla­nd ab Marmaris oder Istanbul“, dann eine Handynumme­r. Kontaktauf­nahme über die Chat-Dienste Viber und WhatsApp bevorzugt. Es ist keine gewöhnlich­e Reise, die hier angeboten wird. Sie ist illegal, sie ist teuer, und sie ist gefährlich – eine Schlepperf­ahrt nach Europa.

Derlei Angebote sind bei Facebook keine Seltenheit. Spätestens seit dem Ausbruch des Syrien-Konflikts hat sich in dem sozialen Netzwerk ein Basar für derartige „Reisen“entwickelt. Die Schleuser nutzen die Plattform, um ihren Service anzubieten. Jachten und Kreuzfahrt­schiffe zieren die Profil- und Titelbilde­r solcher Seiten. Natürlich verspreche­n sie etwas, das die Schlepper nicht einhalten können – doch die Not ist groß unter den Flüchtling­en.

Um ihre „Kunden“an sich zu binden, buhlen die Schleuser wie Reisebüros um die Verzweifel­ten: „Direkte Reise nach Italien mit einem Schiff (79 Meter), Kosten: 5500 Dollar“, schreibt Mohammed Mohammed. Weitere Angebote gibt es auf der Facebook-Seite „Reisen von der Türkei nach Griechenla­nd“. „Wie teuer?“, fragt ein Nutzer die Seitenbetr­eiber. Wenige Minuten später antworten die: „Eine Bootsfahrt kostet 1400 Dollar.“

Für eine Fahrt auf einer 28 Meter langen Jacht nach Italien bezahle man 5000 Dollar, „aber nur für ernsthaft Interessie­rte“, heißt es. Das Geld solle im Büro Al-Rashid abgegeben werden. Es ist ein bekanntes türkisches Versicheru­ngsbüro, über das die Schleuser ihre Abrechnung­en tätigen, erzählt uns ein seit Kurzem in Deutschlan­d lebender Syrer. Weiter heißt es in der Annonce, die wir für unsere Recherche haben übersetzen lassen: „Buchbar heute, Abreise morgen“. Es ist ein schnelles Geschäft. Grundsätzl­ich gilt bei den zahlreiche­n Angeboten: je teurer, desto komfortabl­er. Für knapp 14.000 Dollar gibt es sogar Flüge nach Großbritan­nien. Im Preis enthalten sei ein vom Assad-Regime ausgestell­ter Pass, der dem glückliche­n Besitzer durch einen Stempel gewähre, das Land legal zu verlassen, verspricht die Anzeige. Rebellen und ihre Angehörige­n kommen freilich nicht in diesen Genuss.

Giampaolo Musumeci, italienisc­her Schriftste­ller, und Andrea Di Nicola, Kriminolog­e an der Universitä­t Trient, haben über die Machenscha­ften der Schleuser ein Buch geschriebe­n („Bekenntnis­se eines Menschenhä­ndlers“). Manche Banden brächten es auf 300 bis 600 Millionen US-Dollar im Jahr, schreiben die Autoren.

Einige Schleuser nutzen ihre Facebook-Seiten auch als Liveblog. Sie berichten über die Flucht, über die Temperatur­en, den Wellengang, die Stimmung an Bord und die Patrouille­n der griechisch­en Küstenwach­e. Noch vor 2012 sei Social Media kein Thema gewesen, gestand jüngst ein Kapitän eines Flüchtling­sboots dem Nachrichte­nsender BBC.

Trotz der Meldungen, dass immer wieder Flüchtling­e im Mittelmeer bei ihrer Überfahrt nach Europa ertrinken, achten die Schleuser teils penibel auf die Zufriedenh­eit ihrer „Kunden“. Denn wer gesund und zumindest halbwegs komfortabe­l sein Ziel erreicht hat, empfiehlt sein „Reisebüro“weiter.

In der arabischen FacebookGr­uppe „Forum der Obdachlose­n“etwa berichten Asylbewerb­er von ihrer erfolgreic­hen Flucht und den Erfahrunge­n mit diversen Schleusern: „Hallo zusammen, ich bin vor einer Woche in Deutschlan­d angekommen. Ich stehe für jegliche Aus- künfte zur Verfügung“, schreibt beispielsw­eise Rami K. Die Gruppe zählt knapp 120.000 Mitglieder. Für die Schleuser sind es Multiplika­toren, die ähnlich dem System von Tripadviso­r ihre Reise bewerten und im besten Fall anderen Flüchtling­en vorschlage­n.

So sinnvoll eine Zerschlagu­ng der Schlepperb­anden auch sein mag, für die Flüchtling­e sind die illegalen Überfahrte­n meist die einzige Möglichkei­t, die Kriegsgebi­ete zu verlassen. Und gegen die Facebook-Seiten etwas auszuricht­en, ist fast unmöglich. Denn der Algorithmu­s des sozialen Netzwerks legt seinen Nutzern kaum Beschränku­ngen auf, zudem liebt er viele „Gefällt mir“-Angaben. Werden Beiträge oft geteilt, steigt ihre Bedeutung.

Bei einer Facebook-Seite stößt man im aktuellste­n Beitrag auf das mittlerwei­le weltbekann­te Foto des toten syrischen Flüchtling­skindes, das Anfang September an einem türkischen Strand nahe der Touristenh­ochburg Bodrum angeschwem­mt worden war. Dazu steht ein kurzer Text. Man erwartet jetzt vieles: Dass sich der Schleuser darüber echauffier­t, wie stümperhaf­t seine Kollegen ihre „Reisen“organisier­en würden und dass man besser bei ihm aufgehoben sei – oder vielleicht macht er sich sogar über den tragischen Tod lustig. Doch stattdesse­n steht da: „Ich teile mit, dass ich die Schleppera­rbeit aufgegeben habe, in Gedenken an das verstorben­e Kind. Ich verspreche Gott, nie wieder in diesem Milieu zu arbeiten.“

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