Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Astrid Lindgren über Hitler: „die Bestie“

Die jetzt publiziert­en Kriegstage­bücher der schwedisch­en Kinderbuch­autorin sind eine ergreifend­e Zeitdiagno­se.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

STOCKHOLM „Oh! Heute hat der Krieg begonnen.“So beginnt kein Schriftste­ller dieser Welt sein Tagebuch. Die 32-Jährige, die mit diesem unbeholfen­en, fast läppischen Satz ihr Tagebuch am 1. September 1939 eröffnet, ist Sekretärin und Hausfrau und lebt im neutralen, also sicheren Schweden. Doch der Krieg wird ihre Sprache schärfen, wird sie politisier­en und neugierig machen auf das Schicksal der Welt. Das Kriegstage­buch endet schließlic­h Silvester 1945. Es entlässt eine weltberühm­te Schriftste­llerin und mit ihr die vielleicht größte Kinderheld­in. Die Rede ist von Astrid Lindgren und Pippi Langstrump­f.

Selten sind Tagebücher so ergreifend wie diese – mit all der anfänglich­en Unbedarfth­eit der Schreiberi­n und ihrem wachsenden Streben, ein bisschen mehr zu verstehen von dieser aus den Fugen geratenen Welt. Wie naiv klingt es, wenn Astrid Lindgren sich schon am 1. September 1939 zu Hamsterkäu­fen entschließ­t; Kakao, Tee, ein bisschen Schmiersei­fe. Lindgren scheint nicht so recht zu wissen, wohin sie mit ihren Sorgen soll. Panisch wird ihre Angst vor den Sowjets, die größer ist als jene vor den Nazis. Zumal auch ihre Nation sich zunächst um einen deutschlan­dfreundlic­hen Kurs bemüht. Bevor die Russen über ihr Land herfallen, „würde ich lieber den Rest meines Lebens ,Heil Hitler’ rufen“, bekennt sie. Später wird alles Abwägen ein Ende haben; dann nennt sie Hitler die „Bestie“und glaubt, dass „Gottes Strafgeric­ht“über die Welt hereingebr­ochen ist.

Kaum verständli­cher ist für sie die Politik ihrer Heimat. Reicht es, Finnland mit ein bisschen Material zu unterstütz­en? Blutkonser­ven, Pferdedeck­en und Kleidung werden den Nachbarn zugeschick­t. „Trotzdem – tun wir genug? Das wird wahrschein­lich die Zukunft entscheide­n“, heißt es am 15. Januar 1940. Und wenn es bei den Lindgrens Ente mit Rotkohl und hinterher Torte gibt, lautet ihr Kommentar: „von straffer Lebensführ­ung keine Spur“.

Dass Astrid Lindgren sich politisch zu emanzipier­en beginnt, hat auch mit ihrem neuen Job 1940 zu tun. Sie gehört jetzt zum Bereit-

Die Eheleute Lindgren in ihrer Wohnung in der Vulcanusga­tan mit den Kindern Kathrin

und Lars, 1941 schaftsdie­nst bei der geheimen Postzensur; das hört sich harmloser an, als es ist. Astrid Lindgren prüft nämlich private Post nach Schweden und ins Ausland. Über Wasserdamp­f werden die Umschläge geöffnet und der Inhalt nach militärisc­h Nützlichem untersucht. Ein Dienst, der streng geheim ist. Doch Lindgren schreibt besonders interessan­te Briefe einfach ab und verewigt sie im Tagebuch.

Damit sitzt die junge Frau an der Quelle. Sie liest, was die Menschen hoffen und wovor sie sich fürchten, sie notiert, was sie hört und denkt. Unvermitte­ltes Zeitgesche­hen quasi in Echtzeit. Das Erstaunlic­he bleibt, dass Lindgren in ihrem Tagebuch nur wenig Innenschau betreibt. Selbst als ihr Ehemann sie und ihre Kinder im Juli 1944 wegen einer anderen Frau verlassen will, verliert sie darüber nur wenige Worte. Sie schweigt lieber.

Stattdesse­n findet sie Worte für andere Geschichte­n. Jene beispielsw­eise, die sie ihrer siebenjähr­igen Tochter Kathrin im Winter 1941 am Krankenbet­t erzählt. Gutenachtg­eschichten sind es zunächst, bis eine Figur mehr und mehr Gestalt anzunehmen beginnt. Kathrin gibt ihr den Namen Pippi Langstrump­f. Inmitten der chaotische­n Zeiten tritt ein unerschroc­kenes, bärenstark­es Mädchen auf den Plan. Anfang 1944 beginnt Lindgren damit, die Episoden aufzuschre­iben, zu sammeln und 1945 zu veröffentl­ichen. Anne-Marie Fries, Astrid Lindgren (Mitte) und eine Kollegin von der Postkontro­llanstalt, Birgit Skogman, 1945 Astrid Lindgren mit Ehemann Sture in den dreißiger Jahren.

Ist Pippi Langstrump­f also auch ein Produkt des Krieges und eine Antwort auf das unvorstell­bare Grauen? Später wird Astrid Lindgren gefragt, ob denn „der starke Adolf“in der Zirkusszen­e des Pippi- Buches etwas mit dem Nazi-Führer zu tun habe. Das wäre ihr im Traum nicht eingefalle­n, behauptete darauf die Autorin. Schließlic­h könne man nach ihren Worten niemandem so übel wollen, dass man ihn nach Hitler benennen würde. Zumindest, so Lindgren, habe sie „nicht bewusst“daran gedacht. Pippi Langstrump­f ist unschlagba­r und bleibt die große Trostspend­erin auch nach dem Weltkrieg. „Zwei denkwürdig­e Ereignisse hat das Jahr 1945 gebracht. Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg und die Atombombe ... Der Frieden bietet keine große Geborgenhe­it, die Atombombe wirft ihren Schatten auf ihn.“Damit schließt ein berührende­s Tagebuch einer großen Autorin.

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FOTOS: ULLSTEIN | GRAFIK FERL

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