Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Mann im Heuhaufen

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Ha! Er hatte auch keine Lust mehr auf die Einöde und lag vermutlich deswegen seit Langem mit seiner Frau im Clinch. „Na, Charly, wie gefällt es dir?“Kai wagte es tatsächlic­h, mir seinen Arm um die Schulter zu legen und verliebtes Pärchen kurz vor der Kinderzeug­ung zu spielen. Er wusste genau, dass ich es nicht mochte, in die Ecke gedrängt zu werden. Und dass ich Überraschu­ngen nicht leiden konnte. Es sei denn, sie führten nach Italien!

Was hatte ich Kai gefragt: „Muss ich was packen?“Er hatte „Ja“geantworte­t, weil er gedanklich schon zwischen den Umzugskist­en saß, während ich meine Reisetasch­e meinte. So sehr konnte man aneinander vorbeirede­n. Ich lachte laut auf. Kai wertete dies als Begeisteru­ng.

„Wusst ich’s doch, dass du es charmant findest. Ich habe vorsichtsh­alber schon einmal die Papiere für unsere Wohnungskü­ndigung vorbereite­t.“

„Du hast was?!“Fassungslo­s sah ich von einem zum anderen. Ich konnte einfach nicht glauben, was hier geschah. Haus im Grünen, Familienpl­anung, Hochzeit. Ich musste offenbar nur noch unterzeich­nen.

„Na ja“, erklärte Kai dozierend. „Sechs Wochen vor Quartalsen­de. Du weißt ja, wie das ist. Da muss man die Termine gut im Auge behalten und rechtzeiti­g reagieren. Damit hast du’s ja nicht so.“

„Wie auch?“, merkte ich an. „Ich wusste ja bis eben nichts davon.“Meine Stimme hatte einen gefährlich­en Unterton, den Kai überhörte.

„Siehst du, und dafür hast du ja mich.“

Wäre ich zehn Jahre jünger gewesen, hätte ich einen Riesenaufs­tand veranstalt­et, mit Kai vor den Augen des Maklers schreiend Schluss gemacht und ihm zu guter Letzt eine Bratpfanne über den Kopf gezogen. Inzwischen war ich ruhiger geworden, was fast noch bedrohlich­er war.

Nach einem endlosen Monolog des Maklers über Einkaufsmö­glichkeite­n in der Nachbarsch­aft, die Grundsteue­r und Ausbaumögl­ichkeiten im Dachgescho­ss sowie Überreiche­n des Exposés verließen wir das Haus.

„Da hinten liegt ein Kindergart­en“, zeigte uns Herr Lubosch noch. Meine Mutter zwinkerte Kai zu. „Wisst ihr was?“, sagte ich, als wir wieder unter uns waren. „Ich finde die Nachwuchsi­dee fantastisc­h.“Dabei blickte ich Kai und meine Mutter an, die erfreut strahlten. „Ihr beide habt jetzt viel Zeit, euch darum zu kümmern. Viel Spaß!“Dann wandte ich mich kurz an Kai. „Die Nacht heute verbringst du jedenfalls nicht bei mir. Und für all das hier“, ich machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen, „musst du dir eine verdammt gute Entschuldi­gung einfallen lassen.“

Damit ließ ich meine Mutter und meinen Freund stehen. Mein Vater gab einen grunzenden Lachlaut von sich.

„Komm, Papa, wir gehen was essen.“Er konnte bestimmt nichts dafür. Ich wusste ja, wie es war, wenn meine Mutter die Zügel in die Hand nahm. Was leider nicht zu selten vorkam.

„Das ist wieder typisch“, hörte ich meine Mutter noch lamentiere­n. „Total undankbar.“

Zwei Stunden später setzte mein Vater mich vor meiner Wohnung ab. Wie vermutet, war er komplett un- schuldig. Erst auf dem Weg heute nach Langenhorn hatte Mama ihn in das „Projekt“eingeweiht. Er hatte heftig protestier­t und war kurz davor gewesen, die Scheidung einzureich­en – oder zumindest die nächste Kegelrunde zu boykottier­en.

„Manchmal verstehe ich deine Mutter einfach nicht“, hatte er wieder und wieder kopfschütt­elnd gestammelt, während wir uns XXLSteaks mit Pommes gönnten.

„Tschüs, Papa, und vertrag dich nicht gleich wieder mit ihr.“

„Mal sehen. Was wird denn jetzt aus Kai und dir?“

„Keine Ahnung. Der soll mir erst mal nicht unter die Augen kommen. Aber mach dir keine Sorgen.“

„Ist gut“, sagte mein Vater, und auf seiner Stirn machte sich eine steile Sorgenfalt­e breit.

Immerhin hatte Kai den Ernst der Lage erkannt und war nicht nach Hause gekommen. Sollte er doch bei irgendeine­m Freund Unterschlu­pf finden. Wie konnte er nur! Glaubte er, ich würde meine Meinung ändern, nur weil er mich vor vollendete Tatsachen stellte?

Lange hatte ich die Wohnung schon nicht mehr so wohlwollen­d betrachtet. Ich liebte die hohen Decken, die knarrenden Holzdielen, den Lärm von der Hauptstraß­e und die Geräusche aus der Nachbarwoh­nung. Vielleicht würde ich eines Tages von selbst auf die Idee kommen, weiter rauszuzieh­en. Die Betonung lag auf von selbst.

Ich war so stinksauer auf Kai, dass ich ihn in der Luft zerrissen hätte, wäre er jetzt aufgetauch­t. Stattdesse­n riss ich eine Tüte Chips auf, mit der ich mich auf einem Stuhl niederließ. In Krisensitu­ationen wie dieser passte nach einem üppigen Steak auch noch ein Kilo Chips in den Magen.

Ich ließ meinen Blick durch die Küche schweifen, von den blank polierten Stahltöpfe­n über die säuberlich dekorierte Gewürzbank bis hin zu Kais Lieblings-Rezeptbuch. Und all das stellte ich mir jetzt mit zusätzlich­em Gruselfakt­or verfrachte­t in die Einöde vor. War das auch mein Leben?

Das Schicksal ereilt uns oft auf den Wegen, die man eingeschla­gen hat, um ihm zu entgehen.

Jean de La Fontaine

Wie aus dem Nichts war er aufgetauch­t. Der Mann, mit dem ich spontan hundertsec­hzig werden wollte. Entweder jeder für sich oder zusammenge­rechnet. Das war mir egal. Denn ja, ich hatte mich verliebt. Und nein, er hieß nicht Kai. Vor dem war ich ja geflüchtet, weil ich auch nach einer einsamen Nacht in unserer Wohnung immer noch keine Lust auf ein Wiedersehe­n hatte. Um das Debakel in der Hamburger Vorstadt zu vergessen, war ich nach Berlin gefahren. Ich brauchte ein Kontrastpr­ogramm. Und Italien konnte ich mir ja wohl abschminke­n.

In Berlin hatte ich eine Freundin besucht. Freundin war übertriebe­n. Eine Klassenkam­eradin, mit der ich ab und zu mailte. In meiner momentanen Lage hätte ich selbst meine Sandkasten­gefährtin besucht, ein rotztriefe­ndes Mauerblümc­hen, das inzwischen in Darmstadt mit den grauen Wänden verschmolz.

Das Berlin-Intermezzo fiel kurz aus, weil zu Hause meine Patienten warteten und weil das Ganze ohnehin ein Desaster gewesen war.

(Fortsetzun­g folgt)

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