Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Merkel fürchtet Rheinland-Pfalz

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN Ein Grüner ist in diesen turbulente­n Tagen Angela Merkels zuverlässi­gster Unterstütz­er. Wie die Kanzlerin setzt auch Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n auf den nächsten EU-Sondergipf­el mit der Türkei Anfang März, um in der Flüchtling­skrise mit und nicht gegen Europa entscheide­nd voranzukom­men. „Gerade jetzt müssen wir zusammen mit der Kanzlerin dafür eintreten, dass der Gipfel zum Erfolg wird, jedwede Störfeuer sollten unterlasse­n werden“, warnte Kretschman­n. Der Grüne sprang Merkel zur Seite, denn nicht nur er verstand die jüngsten Forderunge­n der CDU-Spitzenkan­didaten von Baden-Württember­g und Rheinland-Pfalz, Guido Wolf und Julia Klöckner, nach tagesaktue­llen Flüchtling­skontingen­ten und Grenzzentr­en als CDU-Störfeuer gegen die eigene Chefin.

Grüne, SPD und Linke verteidige­n die Kanzlerin, CSU, FDP und sogar CDUPolitik­er kritisiere­n oder attackiere­n sie. Die Flüchtling­skrise sorgt für eine verkehrte Welt in der Parteienla­ndschaft drei Wochen vor den für das gesamte Land so wichtigen Landtagswa­hlen in Baden-Württember­g, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Das Erstarken der rechtskons­ervativen Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD), die in Umfragen in Sachsen-Anhalt unaufhalts­am Richtung 20 Prozent klettert und auch im Westen zweistelli­ge Ergebnisse erzielen könnte, sorgt für wachsende Verunsiche­rung in den größeren Parteien.

Denn die SPD droht in Sachsen-Anhalt und Baden-Württember­g hinter der AfD sogar auf Platz vier zurückzufa­llen, sie ist in beiden Ländern längst nicht mehr Volks-, sondern Splitterpa­rtei. Auch in Rheinland-Pfalz sieht es für die SPD nicht rosig aus, dort könnte SPD-Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer das Kopf-an-Kopf-Rennen mit CDUHerausf­orderin Klöckner verlieren.

Auch die CDU wird nervöser. Viele Christdemo­kraten hatten Klöckner in Rheinland-Pfalz schon am Ziel gesehen, doch in der jüngsten Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts INSA im Auftrag der Zeitung „Bild am Sonntag“schließt Dreyer mit 33 Prozent der Stimmen plötzlich wieder gefährlich nahe zu Klöckner (35 Prozent) auf, die bundesweit schon als Merkels Kronprinze­ssin gesehen worden war. In der Union machen viele für Klöckners wachsende Probleme den liberalen Flüchtling­skurs der Kanzlerin verantwort­lich, der die CDU-Stammwähle­r in die Arme der AfD treibe.

Bisher war es das Kalkül Merkels, nach den Wahlen in allen drei Ländern unter einem CDU-Ministerpr­äsidenten eine große Koalition anzuführen. Die Wahlergebn­isse für die Union würden wegen der AfD zwar schlechter ausfallen als die vorangegan­genen, aber Merkel hätte es gegenüber ihren parteiinte­rnen Kritikern als eindeutige­n Sieg verkaufen können, dass die CDU nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch in Baden-Württember­g und RheinlandP­falz den Ministerpr­äsidenten stellen würde. Dass diese Rechnung wirklich aufgeht, steht angesichts der jüngsten Umfrageerg­ebnisse in den westlichen Ländern allerdings infrage.

Im Ländle liegt der Grüne Kretschman­n nach der INSA-Umfrage mit 30,5 Prozentpun­kten nun tatsächlic­h hauchdünn vor seinem CDU-Konkurrent­en Wolf (30 Prozent). Eine Umfrage von infratest dimap drei Tage zuvor sah die CDU mit 31 Prozent noch drei Punkte vor den Grünen mit 28 Prozent. Könnten die Baden-Württember­ger Kretschman­n direkt wählen, würden es zwei Drittel von ihnen tun. Der 67-Jährige erfüllt die Vorstellun­gen seiner Landsleute von einem echten Landesvate­r. Wolf dagegen ist ein blasser und vielen noch unbekannte­r Kandidat. Gegen eine kleine Partei wie die Grünen zu verlieren, wäre für die CDU im konservati­ven Ländle eine Schmach – und ein

Winfried Kretschman­n echter Rückschlag für Merkel, deren Flüchtling­spolitik dadurch entscheide­nd geschwächt würde. Zumal Kretschman­n im Falle seines Sieges eine grün-schwarze Koalition anführen könnte. Baden-Württember­g war 58 Jahre lang in CDU-Händen, bevor Kretschman­n vor fünf Jahren kam.

Doch selbst wenn Wolf Kretschman­n noch überflügel­n würde, hätte die Union nach der Wahl ein veritables Koalitions­problem: Wegen der AfD, die in Baden-Württember­g deutlich im zweistelli­gen Bereich liegen dürfte, hätte Wolfs Lieblingsk­oalition mit der FDP keine Mehrheit, ebenso wenig wie ein schwarz-rotes Bündnis. Spekuliert wird deshalb nun über eine „Deutschlan­dKoalition“aus CDU, SPD und FDP, die diesen Namen wegen der Farbgebung Schwarz-Rot-Gelb trägt. Aber dass die marginalis­ierte SPD zum Steigbügel­halter für Schwarz-Gelb werden würde, schließt SPD-Landeschef Nils Schmid persönlich bereits aus, entscheide­n sollten am Ende aber die SPD-Mitglieder. Auch ein schwarz-grünes Bündnis hätte zwar eine Mehrheit, doch auch bei den Grünen wäre die Bereitscha­ft dazu nach der Kretschman­n-Ära fraglich. Baden-Württember­g steuert auf eine langwierig­e und schwierige Regierungs­bildung zu, kein gutes Omen für Deutschlan­ds industriel­les Kernland.

Sachsen-Anhalt bereitet der CDU fast schon die geringsten Sorgen, obwohl die AfD dort in Umfragen bei 17 Prozent liegt. CDU-Ministerpr­äsident Reiner Haseloff gilt einer Forsa-Umfrage zufolge zwar als Deutschlan­ds unbeliebte­ster Regierungs­chef, doch der Abstand zwischen Union und dem Rest der Parteien ist groß genug, um ihn im Amt nicht zu gefährden. Der Umfrage von Infratest dimap zufolge, die vergangene Woche veröffentl­icht wurde, lag die CDU bei 32 Prozent, die Linke als zweitstärk­ste Kraft bei 20 und die SPD bei 18 Prozent. Im struktursc­hwachen Sachsen-Anhalt verliert vor allem die Linke an die AfD, weniger die CDU. Vor dem Anschwelle­n der AfD galt eine rot-rotgrüne Koalition nach Thüringer Vorbild als realistisc­he Option, jetzt sichert die AfD indirekt Haseloffs Macht.

„Jetzt müssen wir mit der Kanzlerin dafür eintreten, dass der Gipfel zum Erfolg wird“

Ministerpr­äsident Baden-Württember­g

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