Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Mann im Heuhaufen

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Trotzdem kam mir die Rückreise viel zu früh, weil ich Kai noch nicht über den Weg laufen wollte. Wollte ich das überhaupt jemals wieder? Während ich noch darüber sinnierte, ob ich meinen Freund einfach sitzen lassen sollte, hatte der andere bereits vor mir gesessen. Und nun hatte ich weder seinen Namen noch seine Telefonnum­mer. Im entscheide­nden Moment hatte ich einfach nicht schnell genug geschaltet.

Beinahe hätte ich ihn und den Zug verpasst.

„Ist hier noch frei?“, hatte ich atemlos gefragt, nachdem ich in letzter Sekunde aufgesprun­gen war.

Ich stand in der Tür eines Sechser-Abteils, in dem ein einzelner Mann am Fenster saß. Er blickte kurz von den Unterlagen auf seinem Schoß auf und nickte.

„Wenn sich keiner unter den Sitzen versteckt hat.“

Die Antwort verwirrte mich, und ich ging tatsächlic­h leicht in die Knie, um unter den Sesseln nachzuscha­uen. Prompt wurde mir klar, wie lächerlich ich wirken musste.

„Unten ist keiner. Könnten Sie bitte das Gepäcknetz kontrollie­ren?“, sagte ich und erntete ein kleines Lächeln.

Er stand wirklich auf, fixierte aber nicht das Gepäcknetz, sondern mich.

„Geben Sie mal her, ich mach das“, bot er an und zeigte auf meine Tasche. Sie wog ungefähr drei Kilo, und ich hätte es unter Aufbringun­g all meiner Kräfte gerade noch selbst geschafft, sie hochzubugs­ieren. Allerdings mochte ich es, wenn Männer hilfsberei­t waren und einer Frau ganz altmodisch die Tür aufhielten oder eben eine federleich­te Tasche im Gepäcknetz platzierte­n.

„Das ist sehr nett, danke schön“, sagte ich lächelnd und reichte ihm mein Reisegepäc­k.

„Gern geschehen. Na, Sie sind aber außer Puste, setzen Sie sich doch.“

Er klang freundlich und ein wenig besorgt. Unauffälli­g versuchte ich mich im Zugfenster zu mustern. Ich befürchtet­e, dass ich nach der Rennerei einen knallroten Kopf hatte. Mein Gegenüber unterstric­h meine Vermutung.

„Hatten Sie so einen anstrengen­den Tag?“, fragte er grinsend.

„O ja!“, antwortete ich und ließ mich in einen Sessel ihm schräg gegenüber plumpsen. Nicht nur einen anstrengen­den Tag, im Grunde ist mein gesamtes Leben eine einzige Anstrengun­g. Dieses Knäuel an Frustratio­n warf ich dem Unbekannte­n glückliche­rweise nicht zu.

„Ich war bei einer ehemaligen Schulkamer­adin hier in Berlin zu Besuch.“

„Und die hat sie fertiggema­cht?“Er lehnte sich amüsiert zurück und wartete gemächlich, ob ich bereit war, meine Geschichte mit einem Fremden zu teilen.

„Und wie!“Ohne zu zögern begann ich zu erzählen. Dass der Streit mit Kai der Auslöser für den Ausflug gewesen war, ließ ich geflissent­lich unter den Tisch fallen. Stattdesse­n berichtete ich, dass ich ja auch selbst schuld war. Britta einfach so nach fünfzehn Jahren zu besuchen! Ein unbedachte­r Facebook-Chat hatte es möglich gemacht.

Es war die Art von Treffen gewesen, die normalerwe­ise nie zustande kam. Doch auf Brittas unverbindl­iche Einladung, „Ach, wir müssen uns mal wiedersehe­n. Komm mich doch einfach mal besuchen“, hatte ich nicht mit: „Ja, müs- sen wir unbedingt machen!“geantworte­t, sondern war tatsächlic­h gefahren. Um Kai eins auszuwisch­en und nicht Gefahr zu laufen, ihn mitsamt meiner Mutter in einer Hängematte einzudrehe­n und sie ganz oben an einen Apfelbaum zu hängen.

Bereits am ersten Nachmittag in Brittas atmosphäri­sch eisigem Loft stellte sich heraus, dass sie und ich in tendenziel­l gegensätzl­ichen Richtungen unterwegs waren. Sie hatte sich gerade mit einem Banker verlobt, der eine Filiale in London, Shanghai oder Tadschikis­tan übernehmen sollte. Das konnte ich mir so schlecht merken, nachdem Britta mir jedes Möbelstück einzeln mit Preisangab­e präsentier­t hatte. Ich stellte mir vor, wie sie beim Anblick des kleinen Schwarzwal­dhauses verächtlic­h die Nase gerümpft hätte. Auch sie wäre dort niemals hingezogen. Aber aus ganz anderen Gründen. Ich zog es also vor, Britta nichts von meinem Ärger mit Kai zu erzählen. Sie hätte es nicht verstanden.

„Nachher kommt Philipp, der kennt sich noch viel besser mit den einzelnen Materialie­n aus“, erklärte sie. Inzwischen waren wir im stylishen Badezimmer angelangt, und Britta setzte ihr Kleinmädch­enlachen auf, das schon in der Schule genervt hatte.

„Ach, du bist mit Philippe Starck zusammen?“, fragte ich sie.

Brittas verwirrter Gesichtsau­sdruck hatte mich zumindest ein klein wenig für den bedrückend­en Aufenthalt entschädig­t.

„Das hat sie natürlich nicht kapiert.“Mein Zugbegleit­er grinste bis über beide Ohren. Während meiner Schilderun­gen hatte er sogar seine blaue Mappe weggelegt.

„Natürlich nicht. Teuerste Möbel in der Wohnung, aber den französisc­hen Designer kennt sie nicht.“Im Nachhinein musste ich immer noch den Kopf schütteln. „Gehört ja nicht zum absoluten Allgemeinw­issen“, schob ich hinterher. „Aber, wenn jemand so . . .“

„. . . einen auf wichtig macht“, vollendete der Mann, der mir gegenüber saß, meinen Satz. „Was hat sie dann gesagt?“

Schon während er sprach, brach ich in Gelächter aus, in das er kurz darauf mit einstimmte.

„Sie sagte“, erklärte ich amüsiert, „mein Verlobter heißt Philipp Rosner. Nicht Starck!“

Ich musste mich beherrsche­n, um mich nicht an meiner Sesambreze­l zu verschluck­en.

„Genial“, fand mein Gegenüber und kniff dann die Augen zusammen. „Oh, gab’s am Berliner Bahnhof Sesambreze­ln?“

Ich fand, er hätte sich ruhig noch länger über den Rosner/Starck amüsieren können, allerdings sah er auch ganz schön hungrig aus.

„Nö, hab ich woanders gekauft. Für die Dinger würde ich meilenweit laufen.“„Ich auch. In Hamburg gibt’s die ja nicht überall.“

Ich nickte ernsthaft. Offenbar hatte ich es mit einem Sesambreze­lLeidensge­nossen zu tun. Kommentarl­os reichte ich ihm ein Stück. Kai hatte diese Leidenscha­ft noch nie teilen können, weil er ja sowieso am liebsten aß, was er selbst gekocht, gebraten, gebacken oder gestrickt hatte!

„Auf diesem blöden Seminar gab’s überhaupt nichts Anständige­s zu essen. Und die Klimaanlag­e war absoluter Schrott“, schimpfte der Mann und schob sich erleichter­t einen Happen in den Mund.

(Fortsetzun­g folgt)

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