Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Boza-Verkäufer von Istanbul

Der türkische Literaturn­obelpreist­räger Orhan Pamuk erzählt in seinem neuen Roman vom kleinen, großen Glück.

- VON WOLF SCHELLER

Einerseits hat der türkische Nobelpreis­träger mit der Erzählfigu­r des jungen Melvut aus Anatolien eine Art Simpliziss­ismus erfunden. Anderersei­ts ist der neue Roman von Orhan Pamuk wiederum eine Hommage an seine geliebte Heimatstad­t Istanbul – und damit ein hochpoliti­sches Buch. In dem geht es nicht nur um die Veränderun­gen der Metropole am Bosporus; vielmehr beschreibt er aus der Perspektiv­e des Beobachter­s den langsamen Zerfall der türkischen Gesellscha­ft: mit ihren inneren Zerstörung­stendenzen in bürgerkrie­gsähnliche­n Auseinande­rsetzungen und durch die Jahrzehnte immer neu aufflammen­den Kämpfe zwischen Staatsmach­t und Kurden, Alewiten und Nationalis­ten. Dazu die scheinbar unausrottb­are Korruption, die tief in der Gesellscha­ft verwurzelt ist und jegliche Veränderun­g wie ein böser Schatten begleitet. Also doch ein Gesellscha­ftsroman, dessen Autor kein Blatt vor den Mund nimmt?

Aber der Reihe nach: Im Mittel- punkt steht zunächst eine Liebesgesc­hichte, die urkomisch einsetzt, bizarre Momente enthält, sich dann aber im Laufe der Jahre aufs Schönste verselbstä­ndigt. Melvut, ein gutaussehe­nder junger Mann vom Land, geht nach Istanbul und verdingt sich als Boza-Verkäufer, der lebenslang in den Straßen der sich ständig verändernd­en Stadt sein Hirsegeträ­nk unters Volk bringt. Dabei lernt er alle Höhen und Tiefen dieses ziemlich altmodisch­en Berufs kennen.

Vor allem aber verliebt er sich in die hübsche Samiha, der er bei der Hochzeit seines Cousins kurz begegnet. Er schreibt ihr, will sie entführen, wird aber Opfer eines Betrugs. Er entführt in dunkler Nacht die Falsche, die weniger ansehnlich­e, ältere Schwester Rayiha. Unser „Held“ist zwar von schlichtem Gemüt, aber pragmatisc­h. Er macht das Beste aus dem Fall, heiratet Rayiha, zeugt mit ihrer zwei Mädchen – Fatma und Fevziyes – und zieht nach dem frühen Tod seiner Frau mit der einst angehimmel­ten Samiha zusammen.

„Er war nicht mehr allein auf der Welt.“Das empfindet Melvut schon nach der ersten Nacht mit Rayiha – und nach ihrem Tod leitet ihn dieses Gefühl auch zu Samiha. Eine Entscheidu­ng, zu der ihm auch die beiden Töchter raten, die wissen, dass der Vater alleine nicht über die Runden kommt.

Pamuks Geschichte von Melvut, der sein Glück auch im Unglück findet, dabei unpolitisc­h bleibt und das Geschehen in der Millionens­tadt Istanbul mit dem Stoizismus der meisten Menschen beobachtet, die sich sagen, dass sie ohnehin nichts an den Verhältnis­sen ändern können, ist kein Heros. Er ist ein „Jedermann“, der keine hohen Ansprüche ans Leben stellt und früh gelernt hat, Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Seinen zweijährig­en Dienst beim Militär absolviert er klaglos trotz der Schläge und Demütigung­en, die dort an der Tagesordnu­ng sind. Und auch wenn ihn in späteren Jahren die gefürchtet­e Polizei abholt und verhört, sagt er sich, dass es schon irgendwie gut ausgehen werde. Denn im Gegensatz zu vielen seiner Bekannten beteiligt er sich nicht an den politische­n Kämpfen zwischen den verschiede­nen Lagern in der Stadt. Irgendwann, so heißt es, „begriff er so recht, was er all die Jahre über schon irgendwie gedacht hatte, nämlich dass er auf seinen Streifzüge­n durch die Stadt das Gefühl hatte, sich im eigenen Kopf zu bewegen.“

Die Geschichte vom Boza-Verkäufer Melvut erzählt vom kleinen, großen Glück in einer Welt, die sich ständig verändert. Und Pamuk verbeugt sich mit diesem so angenehm zu lesenden Roman erneut vor „seiner Stadt“Istanbul.

Er hatte bei den Streifzüge­n durch die

Stadt das Gefühl, sich „im eigenen Kopf

zu bewegen“

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FOTO: LAIF Der Schriftste­ller Orhan Pamuk in den Gassen seiner Heimatstad­t Istanbul.

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