Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die schwarze Null ist kein Fetisch

- VON ANTJE HÖNING

BERLIN Wolfgang Schäuble ist nicht zu beneiden. Sozialpoli­tiker der großen Koalition und sprachmäch­tige Ökonomen werfen dem Bundesfina­nzminister vor, er hänge einem Fetisch an: dem Fetisch von der schwarzen Null. Anders als für Schäuble sei ein ausgeglich­ener Bundeshaus­halt für die SPD kein Fetisch, sagte jüngst der stellvertr­etende Vorsitzend­e der SPD-Fraktion, Axel Schäfer. Fetische – das sind primitive Gegenständ­e wie geschnitzt­e Tierfigure­n, die einst Afrikas Eingeboren­e als Kultgegens­tände verehrten. Schäuble als Vodoo-Zauberer, ein ausgeglich­ener Haushalt als Talisman ohne ökonomisch­en Sinn?

Auf den ersten Blick schon. Schäubles Kritiker haben durchaus Argumente zur Hand, die über den plumpen keynesiani­schen Politikans­atz der 70er Jahre hinausgehe­n, wonach schuldenfi­nanzierte Staatsausg­aben so viel Wachstum erzeugen, dass der Staat locker seine Kredite tilgen kann. Marode Straßen, baufällige Schulen, lückenhaft­es Breitband-Netz – die Liste der Investitio­nen, die der Staat sinnvoller­weise tätigen kann, ist lang. Zugleich sind die Zinsen wegen der Geldpoliti­k der Europäisch­en Zentralban­k so niedrig wie nie. Teilweise sind sie sogar negativ: Zehnjährig­e Bundesanle­ihen haben bereits negative Renditen. Das heißt, Gläubiger zahlen dem Finanzmini­ster sogar noch Geld dafür, dass sie ihm Kredit geben dürfen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Staat also neue Schulden machen? Bloß nicht! Bei näherem Hinsehen erweisen sich viele Argumente als falsch. Erstens: Es gibt keine guten und schlechte Schulden. Gerne unterschei­den die Freunde der Nettokredi­taufnahme gute und schlechte Schulden. Gute Schulden sind demnach Schulden, die der Staat macht, um Investitio­nen in die Infrastruk­tur zu finanziere­n. Da eine verbessert­e Infrastruk­tur den folgenden Generation­en nutzt, sei es nur recht und billig, diese auch an der Finanzieru­ng zu beteiligen. Dieser Gedanke stand auch hinter dem alten Artikel 115 des Grundgeset­zes, wonach die Nettokredi­taufnahme so hoch ausfallen durfte wie die staatliche­n Investitio­nen.

Dennoch ist die Idee irreführen­d. Es gibt zu allen Zeiten Dinge, die der Staat auch für künftige Generation­en schaffen und finanziere­n muss. Deshalb gibt es keine guten und schlechten Schulden. Schulden bedeuten stets, dass man sich heute etwas leistet, für das morgen einer zahlen muss. Und selbst bei Nullzinsen bleibt die Tilgung. Darum ist es auch nur folgericht­ig, dass der Staat als Ersatz für Artikel 115 eine Schuldenbr­emse einführt, die das Schuldenma­chen dem Bund ab 2016 und den Ländern ab 2020 verbietet. Das ist umso wichtiger, da der demografis­che Wandel den Konflikt zwischen Gegenwarts­und Zukunfts-Konsum verschärft. Die Schulden, die heute viele machen, müssen später wenige Köpfe abtragen. Zweitens: Investitio­nen heißen nicht automatisc­h Wachstum. Hinter der Vorstellun­g von guten Schulden steht die Idee, dass Investitio­nen (anders als Konsumausg­aben) für Wachstum sorgen. Doch auch das ist falsch. Gute Straßen und sanierte Schulgebäu­de sind wichtig. Die langfristi­gen Wachstumsr­aten aber werden bestimmt durch die Zunahme der Bevölkerun­g und den technische­n Fortschrit­t, wie die Wachstumst­heorie lehrt. Diese Faktoren werden vielleicht durch staatliche Investitio­nen begünstigt, vielleicht aber auch nicht. „Tatsächlic­h sind viele staatliche Investitio­nen nicht produktiv“, sagt Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). „Es nützt wenig, in bauliche Infrastruk­tur, beispielsw­eise Schulgebäu­de, zu investiere­n, wenn nicht zugleich die Lehrerausb­ildeung angegangen wird.“Die vermeintli­ch guten Schulden für die Schulsanie­rung können also leicht ins Leere gehen.

Die Empirie bestätigt dies: Für zwei Drittel des Wachstums der Industriel­änder sorgen Innovation­en, der Rest resultiert aus der Zunahme der gesamtwirt­schaftlich­en Arbeitsstu­nden und der Akkumulati­on von Kapital. Drittens: Investitio­nen lassen sich durch Umschichtu­ngen finanziere­n. Zweifellos gibt es in Deutschlan­d großen Investitio­nsbedarf, wenn auch keine Investitio­nslücke von 100 Milliarden Euro pro Jahr, wie das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung ( DIW) behauptet. Doch diese Investitio­nen ließen sich leicht aus dem laufenden Haushalt von Bund, Land und Kommunen finanziere­n. „Was an öffentlich­en Investitio­nen zu tätigen ist, ist mit Umschichtu­ngen und guter Prioritäte­nsetzung in den öffentlich­en Haushalten zu erreichen, also ohne die strukturel­len Mehrausgab­en zu erhöhen“, sagt Christoph Schmidt, Chef der Wirtschaft­sweisen. Die schwarze Null müsse nicht auf Kosten der nötigen Investitio­nen gehen, wenn man den Mut habe, konsumtive Ausgaben zu streichen.

Konsumtive Ausgaben sind etwa Personalau­sgaben im öffentlich­en Dienst, Sozialleis­tungen oder Steuererle­ichterunge­n. Es ergäben sich Milliarden­Spielräume für staatliche Investitio­nen, wenn Düsseldorf etwa auf die Beteiligun­g an der Tour de France verzichtet, das Land auf Förderprog­ramme zur Genderfors­chung oder MigrantenS­elbstorgan­isation, der Bund auf Geschenke wie Pendlerpau­schale und Elterngeld.

Andere Beispiele ließen sich finden. „Bei den üppigen Einnahmen von Bund, Ländern und Kommunen lässt sich das Infrastruk­tur-Problem leicht durch normale Haushaltsp­olitik und Prioritäte­nsetzung lösen“, meint Schmidt. „Das kann innerhalb der Budget-Spielräume geschafft werden. Das muss man natürlich dann seinen Wählern erklären.“Doch diesen Mut und Willen haben eben viele Politiker nicht, erst recht nicht in Wahlkampfz­eiten.

Die schwarze Null ist kein Fetisch, sondern ökonomisch und politisch vernünftig. Sie sorgt dafür, dass die heutige Generation nicht noch mehr auf Kosten der künftigen lebt, und disziplini­ert rotschwarz-grüne Politiker, die ihre Klientel beglücken wollen. Schäuble ist kein Schamane, sondern der letzte Standhafte der Finanzpoli­tik.

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