Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Einfach den Ball laufen lassen

Dreierkett­e, Viererkett­e, drei oder zwei Sechser – diese Systemfrag­en sind im Halbfinale morgen nur Nebensache. Für den DFB geht es darum, Überzahlsi­tuationen zu schaffen. Das glaubt unser Kolumnist Tobias Escher.

- VON TOBIAS ESCHER

DÜSSELDORF Sepp Herberger hatte ein Faible für kurze, prägnante Merksätze. Noch heute sind seine Weisheiten wie „Der Ball ist rund“oder „Ein Spiel dauert 90 Minuten“jedem Fußballfre­und bekannt. Auch gegenüber seinen Spielern präferiert­e er Merksätze, allerdings hatten diese mehr Inhalt. „Der Ball hat die beste Kondition!“predigte er Dribbelkün­stlern, die den Ball nicht rechtzeiti­g abgaben. Seine vielleicht liebste Fußballwei­sheit lautete jedoch: „Man muss immer einen Mann Überzahl nahe dem Ball haben.“Die Idee ist simpel: Nur mit einer Überzahl in Ballnähe kann man Pässe auf den freien Mann spielen

„Der Ball hat die beste Kondition“

Sepp Herberger

Deutscher Bundestrai­ner 1936 bis 1942 und 1950 bis 1964

oder den ballführen­den Gegner richtig unter Druck setzen.

Seit Herberger die Nationalma­nnschaft trainierte, sind über 50 Jahre vergangen. Dennoch hat seine Weisheit nichts an Aktualität eingebüßt. Joachim Löw, so scheint es, ist auch heute noch ein Anhänger dieser These. Letztlich waren seine Umstellung­en gegen Italien nichts anderes als der Versuch, Überzahlsi­tuationen in den Zonen herzustell­en, die Italien besonders schätzt. Die drei deutschen Innenverte­idiger hatten eine Überzahl gegen die zwei italienisc­hen Stürmer. Die Frage vor dem Halbfinale gegen Frankreich lautet für Löw daher nicht, ob er sein System umstellen wird – das ist mittlerwei­le fester Teil seiner Philosophi­e. Die Frage lautet vielmehr: In welchen Zonen muss man eine Überzahl herstellen?

Die Franzosen nutzen vor allem das zentrale Mittelfeld, um vor das gegnerisch­e Tor zu gelangen. Didier Deschamps stellte seine Mannschaft zuletzt in einem 4-2-3-1-System auf. Die beiden Außenstürm­er agierten nur auf dem Papier auf den Außen. Bei Ballbesitz rückten sie in die Mitte. Vor allem Dimitri Payet bewegte sich permanent vom linken Flügel in den Halbraum. Von dort aus versuchte er, zusammen mit Mittelfeld­motor Paul Pogba das Spiel anzukurbel­n. Den rechten Halbraum besetzte wiederum Zehner Antoine Griezmann. Selbst wenn Frankreich gegen die offensivst­arken Deutschen zurückkehr­en sollte zum 4-1-4-1-System der ers- ten Spiele, ändert das am Fokus nichts; die Franzosen werden in beiden Varianten die Halbräume und das Zentrum nutzen, um vor das Tor zu gelangen.

Joachim Löw wird also seine Taktik danach ausrichten, keine französisc­he Überzahl im offensiven Mittelfeld zuzulassen. Auf dem Papier scheint die logische Variante zu sein, das Mittelfeld mit einem dritten Sechser zu sichern. Ein 4-3-3 hat die deutsche Mannschaft bereits in der Qualifikat­ion eingesetzt. Das Problem: Sami Khedira fällt gegen Frankreich sicher aus, Bastian Schweinste­iger fehlt mit hoher Wahrschein­lichkeit. Löw müsste sich also trauen, Emre Can und/ oder Julian Weigl als Sechser zu bringen. Can wäre mit seiner körperlich­en Wucht eine gute Wahl gegen die robusten Pogba und Blaise Matuidi. Weigl könnte wiederum mit seinem Raumgefühl das defensive Mittelfeld sichern. Eine alternativ­e, aber vielleicht zu offensive Variante wäre ein Dreiermitt­elfeld aus Schweinste­iger, Toni Kroos und Mesut Özil.

Angesichts der Ausfälle im Mittelfeld ist nicht ausgeschlo­ssen, dass Löw an der Dreierkett­e in der Abwehr festhält. Mats Hummels fehlt zwar gesperrt, dessen Part könnte jedoch Skhodran Mustafi übernehmen. Aus der Dreierkett­e könnten situativ Innenverte­idiger herausrü- cken, um die Mittelfeld-Überzahlen der Franzosen zu kontern. Wenn die Franzosen doch durchkämen, hätte Deutschlan­d in der letzten Linie eine hohe Kompakthei­t, um die tödlichen Pässe hinter die Abwehr zu verhindern.

Eine Dreierkett­e würde auch den Außenverte­idigern erlauben, offensiver zu agieren. Gegen die Franzosen wäre dies ein gutes taktisches Mittel. Die Flügelvert­eidigung ist die Schwachste­lle der Franzosen. Die Außenstürm­er rücken häufig zu weit ein, auch die Sechser unterstütz­en die Außenverte­idiger nicht genug. Die Außenverte­idiger Patrice Evra (35) und Bacary Sagna (33) sind oft auf sich gestellt, machen dabei aber nicht immer einen sicheren Eindruck auf ihre alten Fußballert­age. Deutschlan­d könnte also versuchen, durch die aufrückend­en Außenverte­idiger Überzahl auf dem Flügel herzustell­en. Das Problem: Durch die Verletzung von Mario Gomez fehlt ein Verwerter für hohe Flanken. Deutschlan­d müsste sich flach vom Flügel ins Zentrum kombiniere­n.

Egal, ob Löw sich für die Dreierkett­e, ein 4-3-3 oder das klassische 4-2-3-1 entscheide­t, es dürfte Herbergers zweitliebs­te Weisheit gelten: „Der Ball hat die beste Kondition.“Frankreich wird das Heil in Kontern durch das Zentrum suchen, Deutschlan­d muss den Ball laufen lassen. Wenn die Elf an den richtigen Stellen Überzahl herstellt, steht dem Einzug ins Finale nichts entgegen. Tobias Escher (28) ist Taktik-Experte. Er betreibt die Internetse­ite spielverla­gerung.de, auf der er regelmäßig wichtige Spielzüge im Profifußba­ll erklärt.

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FOTO: IMAGO Tüftelei: Bundestrai­ner Joachim Löw und sein Assistent Thomas Schneider, der seine Taktiktafe­l vor dem Viertelfin­ale gegen Italien ordnet.

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