Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Vielleicht mag ich dich morgen
Nun würde sie sich offiziell über ihn beschweren, und man würde ihn von dem Projekt abziehen. Oder noch schlimmer: Parlez würde den Auftrag ganz verlieren. Es würde sich an allen Universitäten herumsprechen. Die Firma würde auf der schwarzen Liste landen. Und er konnte seinen Job vergessen. Sie machte zwar ein erstauntes Gesicht, sagte aber nichts. James überlegte, ob er sich entschuldigen solle, kam aber zu dem Schluss, dass es jetzt nichts mehr brachte, zu Kreuze zu kriechen.
Im nächsten Moment ergriff Anna mit ruhiger Stimme das Wort. „Haben Sie genug von mir gehört?“
„Mehr als genug, danke“, entgegnete James und knallte seinen Laptop zu.
Nach Annas Seminar am Nachmittag steckte Patrick den Kopf zur Tür herein.
„Wie war es mit deiner Nemesis?“, fragte er. „Hat er sich als schlüpfrige Mungbohne entpuppt?“Patrick hatte sein eigenes Vokabular, das nur der entschlüsseln konnte, der sich oft genug Red Dwarf im Fernsehen ansah. „Ich habe mich verdrückt, als die Technik lief. Doch nach dem zu urteilen, was ich mitgekriegt habe, warst du spitzenmäßig.“
„Hmmm. Es ist echt komisch. Aber entweder tarnt er es sehr gut, oder er erinnert sich wirklich nicht mehr an mich. Seltsam, findest du nicht? Und dabei war er für mich immer überlebensgroß. Die großen Leute vergessen eben die kleinen, auch wenn die kleinen einen ziemlichen Leibesumfang hatten.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand dich vergisst“, erwiderte Patrick. „Außerdem gehst du wahrscheinlich zu hart mit dir ins Gericht. Du warst bestimmt nur . . . kurvenreich.“Anna konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „O nein, glaube mir, ich kokettiere nicht. Ich war ein richtiges Fass. Mit einer gewaltigen Wuschelmähne wie Slash von Guns N’ Roses und einem Hängekleid im Zirkuszeltformat.“
„Nun, ich bin froh, dass du keinen Ärger mit ihm hattest.“
„Ein bisschen Ärger hat es gegeben . . . Ich habe einen Witz über seine Firma gemacht, worauf er mir einen Riesenvortrag darüber gehalten hat, dass ich seinen Job bescheuert finde, was bei ihm übrigens genauso sei. Das hat mich total überrascht. Vor allem deshalb, weil er immer so cool und absolut unangreifbar tut.“
„Echt?“Patricks Augen weiteten sich. Er lehnte sich an den Türrahmen und kratzte sich am Kinn.
„Ich glaube, wenn er sich tatsächlich nicht an mich erinnert, halte ich es schon aus, mit ihm zusammenzuarbeiten.“
„Soll ich die Datei an dich und an diesen Parlez-Laden schicken?“
„Ach, schick das Ding nur an die“, erwiderte Anna, plötzlich verlegen. „Ich brauche mir selbst nicht beim Rumlabern zuzuschauen.“
James Fraser und seine supertollen Kollegen würden sich bestimmt darüber kaputtlachen. Wenn schon!
Patrick nickte und verzog sich. Doch schon wenige Sekunden später war ein gemurmeltes Ach, herrje, wie geschmacklos! zu hören. Er klopfte noch einmal an und kam wieder herein.
„Ich fürchte, da hat sich jemand einen Scherz erlaubt.“
Anna folgte Patricks Blick zu dem mit einigen durchgestrichenen und hinzugefügten Buchstaben veränderten Namensschild.
„Dr. Knackarsch?“, las Anna laut vor.
„Diese Respektlosigkeit schreit zum Himmel. Du wirst zum Objekt gemacht“, empörte sich Patrick. Seine Haut nahm den leichten Rosaton von Surimi-Stäbchen an. „Manche Leute kommen eben nicht klar mit intelligenten Frauen. Wie können sie es wagen . . . ein Urteil zu fällen . . .“, Patricks Zorn war noch komischer als die Straftat an sich, „über deinen . . . deinen . . .“„Die Optik meines Hinterns.“„Ich werde mich sofort um Ersatz kümmern“, verkündete Patrick und entfernte das Schild aus der Halterung.
„Danke“, sagte Anna. Sie hatte inzwischen gelernt, dass man Patrick nicht darin hindern durfte, den Gentleman herauszukehren.
„Ich fürchte, ich habe einen Verdacht, wer das gewesen sein könnte“, fuhr Patrick fort. „Zwei Beavisund-Butthead-Typen im zweiten Jahr, die sich lobend über deine Figur geäußert und mich gefragt haben, ob ich . . .“, Patrick malte mit vier zu Hasenohren geformten Fingern Anführungszeichen in die Luft, „da auch drauf abfahren würde. Ich muss doch bitten! Was für eine Ausdrucksweise.“
Als Patrick noch stärker errötete, lief Anna ebenfalls rot an.
„Könnte schlimmer sein“, sagte sie. „Die hätten auch Dr. Analmessie draus machen können.“Eine Pause entstand. Patrick zuckte zusammen. „Ich lasse das auswechseln.“
„Ja, danke“, antwortete Anna und kehrte in ihr Büro zurück. Dort setzte sie sich wieder an den Schreibtisch und öffnete ihre Mails. Hallo Anna, danke für Ihre Hilfe vorhin. Freue mich schon darauf, mir das Video anzusehen. In Sachen Exponate: Die Designer sind mit dem Gürtel einverstanden. Wäre es hilfreich, zusammen mit Ihnen einen Teil der restlichen Sachen im British Museum anzuschauen? Dann können Sie die aussuchen, die Sie am geeignetsten finden. Viele Grüße James
Ein Friedensangebot. Anna überlegte, ob sie es annehmen sollte. Ihre Attacke war eigentlich als Form der Selbstverteidigung gedacht gewesen, in der Annahme, dass er zuerst zuschlagen würde. Wenn nicht . . .? Hmmmm.
Sie beschloss, die Waffen niederzulegen, solange James Fraser das Mock-Rock-Fiasko nicht erwähnte. Sie konnte kaum glauben, dass er sie noch immer nicht erkannte. Tat er es womöglich doch und spielte nur den Ahnungslosen? Denkbar, aber höchst unwahrscheinlich. Ihr war keine Veränderung an seinem Verhalten aufgefallen, seit sie ihm und Laurence zufällig auf dem Klassentreffen begegnet war.
Vergessen und Vergeben kam nicht in Frage. Doch da sie sich momentan nun einmal mit seiner Anwesenheit abfinden musste, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie würde ihn mit der Gleichgültigkeit behandeln, die er verdiente.
Wieder landete eine Mail mit einem Pling in ihrem Posteingang. BDSM-Neil ließ nicht locker. Wow!
(Fortsetzung folgt)