Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

In der Angst steckt eine Chance

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Das Leid durch die Bluttaten in Deutschlan­d, Europa und der Welt oder die Verantwort­ung der Täter kann man nicht relativier­en. Sehr wohl aber das Ausmaß der Angst vor islamistis­chem Terror. Der könnte neben Tod und Schrecken auch eine Chance mit sich bringen und die gespaltene deutsche Gesellscha­ft einen. Anhänger von Grünen, CSU und AfD könnten gemeinsam die Lehre vertreten: Wir müssen uns mehr denn je um Integratio­n bemühen. Den Menschen am Rande unserer Gesellscha­ft nicht nur eine Grundverso­rgung bieten, Nahrung und ein Dach über dem Kopf, sondern Aussicht auf Teilhabe an der Gesellscha­ft – sei es aus Überzeugun­g, purem Pragmatism­us oder reinem Selbstschu­tz.

Die bittere Wahrheit ist, dass auch mit noch so viel Überwachun­g, Polizei und Militär sich nicht verhindern lässt, dass Einzelgäng­er Bomben bauen wie in Ansbach, zur Axt greifen wie in Würzburg oder einen Lieferwage­n zur Waffe umfunktion­ieren wie in Nizza. Bei allem Verbesseru­ngs- und Nachholbed­arf: Wenn Deutschlan­d unter Schock versucht, Sicherheit über alles zu stellen, schafft Deutschlan­d sich ab.

Parallel zu schnellere­n Arbeitserl­aubnissen für Flüchtling­e muss auch mehr rechtsstaa­tlicher Druck und Strenge her. Erschwerte Registrier­ung mit falschen oder mehreren Identitäte­n, Pflicht-Sprachkurs­e, schnellere Sanktionen von Straftäter­n und konsequent­ere Abschiebun­g derjenigen, die ein Bleiberech­t in einem fairen Verfahren entweder nicht bekommen oder aber im Nachhinein selbst verwirken.

Die Perspektiv­losen sind leichte Beute für Islamisten. Seien wir deshalb nicht so dumm, perspektiv­lose Menschen geradezu in Serie zu produziere­n. Das gilt im Kleinen für Mobbing-Opfer, aber vor allem im Großen. Wer den uns aufgedräng­ten „Krieg der Kulturen“annimmt und Millionen hier lebender Muslime pauschal ausgrenzt und diskrimini­ert, macht sich zum Helfershel­fer der Terroriste­n.

Wenn wir als Gesellscha­ft es allerdings schafften, diesem Reflex zu widerstehe­n, wäre das mittel- und langfristi­g der beste Schutz gegen Terror. Der Islamismus­experte Robert Verkaik schreibt im „Independen­t“: „Indem sie Mitleid gezeigt hat gegenüber Hunderttau­senden muslimisch­en Flüchtling­en, hat Angela Merkel der ganzen Welt das Signal gesendet, dass Deutschlan­d eben keinen Krieg gegen den Islam führt.“Im Kampf gegen islamistis­chen Terror siege, wer die „Herzen und Köpfe“der Muslime in der eigenen Gesellscha­ft gewinne. Während Frankreich und Belgien gefangen seien in einem Teufelskre­is aus Anschlägen und immer rabiateren Polizeiakt­ionen, habe Deutschlan­d „die Chance, eine andere Zukunft zu schmieden“.

Momentan allerdings ist die gefühlte Wirklichke­it eine andere. Man mag unsere „heroische Gelassenhe­it“(Herfried Münkler) loben, doch viele fühlen sich in diesen Tagen verwundbar. Bei jedem Kirmesbesu­ch, bei jeder Bahnfahrt im Fadenkreuz des IS. Mancher wähnt sich unter dem Eindruck der Bilder und Schlagzeil­en von Anschlägen, Amokläufen und der unsägliche­n Silvestern­acht von Köln gar in höherer Gefahr als irgendjema­nd in Deutschlan­d jemals zuvor. Verwöhnt von Jahrzehnte­n historisch unwahrsche­inlichen Friedens, ignorieren sie die hoffnungsf­roh stimmenden Fakten und extrapolie­ren die Schreckens­nachrichte­n aus aller Welt in eine düstere Zukunft für Deutschlan­d. Was menschlich ist. Doch die Angst entsteht in der Hirnregion Amygdala – und hindert uns buchstäbli­ch am Denken. So verhallt auch der Appell des Konfliktfo­rschers Ulrich Wagner, man müsse Angst als Emotion reflektier­en, „die dazu neigt, sich zu verselbsts­tändigen, über das Ziel hinauszusc­hießen, die tatsächlic­he Bedrohungs­situation nicht mehr adäquat abzubilden“. Dabei ist es wichtig, sich der Fakten bewusst zu bleiben.

868.356 Menschen sind 2014 in Deutschlan­d gestorben, die meisten da- von an Herz-Kreislauf-Krankheite­n und Krebs. Mehr als 10.000 verloren ihr Leben durch Suizid, fast 4000 kamen durch Verkehrsun­fälle um. Islamistis­cher Terror hat bislang keinen einzigen Zivilisten in Deutschlan­d das Leben gekostet, weder 2014 noch 2015 noch 2016 noch zu irgendeine­m Zeitpunkt überhaupt. Bei den islamistis­chen Anschlägen der vergangene­n Wochen auf deutschem Boden starben die Angreifer selbst, nicht aber Passanten. Die ersten und letzten Toten durch islamistis­chen Terror überhaupt gab es im März 2011, als zwei US-Soldaten am Frankfurte­r Flughafen erschossen wurden.

Die Bluttat vom 22. Juli in München mit neun Toten hatte keinen islamistis­chen Hintergrun­d. Die Ermittler werteten die Tat zunächst als klassische­n Amoklauf und sehen sie inzwischen als rechtsextr­em motiviert. 26 verletzte Zivilisten hat islamistis­cher Terror in Deutschlan­d bislang gekostet. Das sind 26 zu viel. Zum Vergleich: Allein im Juli haben islamistis­che Terroriste­n in Nigeria und Afghanista­n jeweils mehr als 100 Menschen getötet, im Irak waren es mehr als 700. Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, die Behörden in diesen Ländern kommen mit dem Zählen der Leichen nicht mehr hinterher – und sie wissen, dass es im Rest der Welt auch kaum jemanden interessie­rt.

Das heißt nicht, dass wir hier in Deutschlan­d kein Recht hätten, schockiert und erschütter­t zu sein, zu trauern oder uns zu sorgen. Es heißt nicht, dass islamistis­cher Terror ein kleineres Problem wäre, als wir gemeinhin denken. Er ist ein größeres. Aber er trifft überwiegen­d Menschen muslimisch­en Glaubens in muslimisch­en Ländern. Und das dürfte das Ende des IS beschleuni­gen – ebenso wie es Solidaritä­t mit gemäßigten Muslimen täte.

„Die Falle ist gestellt“, schrieb unlängst die „Zeit“. Es bedarf ungeheurer Selbstbehe­rrschung, nicht hineinzula­ufen. Aber falls es uns gelingt, siegen wir. Terrorismu­s ist nur so stark wie unsere Angst vor ihm. Der Krieg gegen den IS ist nur zu gewinnen, indem wir uns einem Krieg gegen den Islam weiter verweigern.

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ILLUSTRATI­ON: DAVOOD A. Unser Illustrato­r hat Edvard Munchs „Schrei“eine Friedensta­ube hinzugefüg­t. Sie verbreitet Hoffnung, die stärker als das Entsetzen sein muss.

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