Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

AfD bedroht Schwarz-Rot in Schwerin

Das Abschneide­n der Alternativ­e für Deutschlan­d bei der Landtagswa­hl am 4. September hat Signalchar­akter im Bund.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Wenn die Kameras kommen, lässt sich Erwin Sellering die Enttäuschu­ng über die hohen Umfragewer­te der AfD und die schlechten der SPD zunächst nicht anmerken. Seine Bilanz, doziert Mecklenbur­gVorpommer­ns Ministerpr­äsident, könne sich doch sehen lassen: „Wir haben in den letzten zehn Jahren die Arbeitslos­igkeit halbiert und machen seit 2006 keine neuen Schulden mehr.“Aber dann muss er sie doch wieder beantworte­n, die leidige Frage nach der AfD, die in Mecklenbur­g-Vorpommern bei 19 Prozent liegt, nur drei Punkte hinter der SPD. „Ich kann die Menschen nicht verstehen, die ihre Stimme an die AfD verschenke­n wollen“, sagt der SPD-Politiker.

Am 4. September wird gewählt, es ist die erste von noch zwei Landtagswa­hlen in diesem Jahr, die zweite folgt am 18. September in Berlin. Die Meck-Pomm-Wahl ist eine Signalwahl nicht nur für die Hauptstadt zwei Wochen später, sondern auch für alle danach folgenden Wahlen: Sie gibt einen ersten Eindruck davon, wie stark die AfD nach den jüngsten Terrorangr­iffen, die teilweise auf das Konto von Flüchtling­en gingen, bundesweit wieder werden kann. Denn eigentlich war die AfD nach den Querelen ihrer Führungsri­ege und den Skandalen in Baden-Württember­g schon auf dem absteigend­en Ast. „Die Bedeutung der Wahl in Mecklenbur­g-Vorpommern liegt darin, dass ein großer Erfolg der AfD bundesweit wieder neues Leben einhauchen kann“, sagt Manfred Güllner, Chef des Berliner Meinungsfo­rschungsin­stituts Forsa. In Ostdeutsch­land habe die AfD zwar traditione­ll mehr Anhänger als im Westen, doch ein auffallend starkes Abschneide­n in Mecklenbur­g-Vorpommern wäre ein Ausrufezei­chen. Im Nordosten kommt die NPD in den Umfragen auf weitere vier Prozent, insgesamt könnte sich damit ein Viertel der Wähler für Rechtsauße­n entscheide­n. Zusammen mit den vielen Nichtwähle­rn, dürfte die Dunkelziff­er der Rechtsnati­onalen sogar noch höher sein, bei einem Drittel liegen.

Die Hauptleidt­ragende dieses bedrohlich­en Rechtsdrif­t dürfte die SPD sein. Sie kommt in der letztverfü­gbaren Infratest-Umfrage von Ende Juni nur auf 22 Prozent. Im Vergleich zu den stolzen 35,6 Pro- zent, die sie vor fünf Jahren erzielte, wäre das ein Absturz. Und sollte die AfD die SPD am 4. September sogar überholen, wäre es ein Gau für die SPD und ihren Vorsitzend­en Sigmar Gabriel. „Dann ist die Diskussion über seine Eignung als Parteichef und Kanzlerkan­didat gleich wieder eröffnet“, prophezeit Güllner.

Ganz anders sieht es für die CDU und ihre Chefin Angela Merkel aus, die ihren Wahlkreis in Stralsund hat. Die Union liegt in der Umfrage bei 25 Prozent, das ist ein ordentlich­er Wert. Der als blass beschriebe­ne CDU-Spitzenkan­didat Lorenz Caffier, seit zehn Jahren Innenminis­ter in Sellerings rot-schwarzem Kabinett, hat es mit schneidige­n Lawand-Order-Sentenzen besser als Sellering geschafft, den durch den Terror verunsiche­rten Bürgern ein Sicherheit­sgefühl zu vermitteln.

Für Merkel sei die Wahl im Grunde unwichtig, denn sie habe auf die Mobilisier­ung der Unionswähl­er bei der Bundestags­wahl keinen Einfluss, sagt Güllner. Das Erstarken der AfD in Mecklenbur­g-Vorpommern und anderswo könne sehr wohl auf Merkel zurückfall­en, meint dagegen der Berliner Politikwis­senschaftl­er Oskar Niedermaye­r. „Viele sehen in Merkels Flüchtling­skurs und der erhöhten Terrorgefa­hr einen kausalen Zusammenha­ng. Das schadet ihr natürlich“, sagt Niedermaye­r. Und nach ihren Erfolgen bei Landtagswa­hlen seien die Werte der AfD bundesweit immer gestiegen.

„Die etablierte­n Parteien haben viel zu spät ernst genommen, was sich da in der Bevölkerun­g zusammenge­braut hat: Ihre Antworten auf Flüchtling­e und Terror reichen den Menschen nicht, deshalb wählen sie lieber AfD“, sagt Niedermaye­r. Die Folgen dieser Versäumnis­se bekommen Politiker im Alltag zu spüren. Er erlebe eine nie dagewesene Radikalisi­erung, berichtet etwa Sellering. Es komme vor, dass er auf der Straße als „Arschloch“diffamiert werde.

Sellering wird absehbar nur im Amt bleiben können, wenn sich die SPD nach der Wahl auf Rot-RotGrün einließe. Doch die drei Parteien verstehen sich im hohen Norden nicht so gut wie in Thüringen, wo die Linken unter Bodo Ramelow einen moderaten Kurs fahren. Wahrschein­licher ist, dass der 66-jährige Sellering die SPD in ein schwarz-rotes Bündnis diesmal unter Caffier führt – um sich danach in den Ruhestand zu verabschie­den.

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