Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die radikalisi­erte Gesellscha­ft

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND JULIA RATHCKE

DÜSSELDORF Kaum ein Politiker sieht sich so vielen Anfeindung­en aus der rechten Szene ausgesetzt wie Heiko Maas (SPD). Seit der Justizmini­ster sich mit dem Satz „Pegida ist eine Schande für Deutschlan­d“positionie­rte, treffen ihn fast täglich verbale Attacken – bis hin zu Morddrohun­gen. Mit Ort, Datum und Uhrzeit. Selbst eine Neun-Millimeter-Patrone fand er neulich in seinem Briefkaste­n. In seinen 20 Jahren in der Politik habe er noch nie „so viel Rohheit wie heute“erlebt, sagte Maas.

Die subjektive Einschätzu­ng des Ministers deckt sich mit neuen wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen. Der Politikwis­senschaftl­er und Parteienfo­rscher Oskar Niedermaye­r von der Freien Universitä­t Berlin kommt zu dem Ergebnis: „Wir befinden uns in einer Art gesellscha­ftlicher Ausnahmesi­tuation.“Er könne sich nicht erinnern, dass es einmal eine so stark emotionali­sierte Polarisier­ung innerhalb der Gesellscha­ft gegeben habe – verbunden mit der vollkommen einseitige­n Ausrichtun­g auf ein Thema: die Flüchtling­skrise, sagt der Professor für empirische politische Soziologie. „Diese Ausnahmesi­tuation wird von der AfD genutzt.“Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Otto-Brenner-Stiftung in einer aktuellen Studie: „Motor des momentanen Höhenflugs der AfD ist dabei die Polarisier­ung in der asylpoliti­schen Debatte.“Die AfD habe sich die damit verbundene­n wachsenden Ängste, Befürchtun­gen und Ressentime­nts zunutze machen können.

Die Folgen für die Parteien und ihre Wahlprogra­mme sind den Wissenscha­ftlern zufolge dramatisch. Es gebe seit Kurzem eine neue Konzeption von sozialer Gerechtigk­eit, sagt Niedermaye­r: „Nicht mehr nur wirtschaft­lich ,oben’ gegen ,unten’, sondern auch kulturell ,drinnen’, also die Deutschen, gegen ,draußen’, also die Flüchtling­e.“Für linksstehe­nde Parteien wie die SPD und die Linken bedeute dies: „Die abgewander­ten Wähler kann man nicht allein mit Maßnahmen wie zum Beispiel der Erhöhung des Mindestloh­ns zurückhole­n.“Mit anderen Worten: Die Angst vor Flüchtling­en ist zurzeit selbst unter sozial Benachteil­igten größer als die Angst zu verarmen.

Wie stark das Flüchtling­sthema das Wählerverh­alten beeinfluss­t, lässt sich vor allem an der Mitglieder­entwicklun­g der AfD ablesen, die Niedermaye­r erstmals in seine jährliche Analyse der Mitgliedsz­ahlen deutscher Parteien einfließen ließ. Demnach verlor die AfD mit der Abspaltung des Lucke-Flügels zwar zunächst gut ein Fünftel ihrer Mitglieder, hat diesen Verlust aber inzwischen wieder ausgeglich­en.

Ähnlich verhielt es sich mit dem Zuspruch der Wähler: Nach der Abspaltung der Alfa-Partei dümpelte die AfD bei drei bis vier Prozent. Von Herbst 2015 an jedoch, kurz nach dem berühmten „Wir schaffen das“von Kanzlerin Angela Merkel am 31. August 2015, habe die AfD stark zugelegt, heißt es in einer Studie von Niedermaye­r und seinem Forscherko­llegen Jürgen Hofrichter, die jetzt in der „Zeitschrif­t für Parlaments­fragen“erschienen ist. „Angela Merkels Flüchtling­spolitik hat der AfD ganz klar Auftrieb gegeben, das zeigen die Umfragewer­te“, resümiert Niedermaye­r im Gespräch mit unserer Redaktion. Ein Übriges taten die Kölner Silvestern­acht und die jüngsten, islamistis­ch motivierte­n Terroransc­hläge. Meinungsfo­rscher Richard Hilmer sieht das ähnlich: „Die Stärkung der AfD basiert im Wesentlich­en auf der Flüchtling­spolitik und der Enttäuschu­ng über die CDU.“

Aber wer genau sind diese größtentei­ls so enttäuscht­en AfD-Wähler? Von welchen sozialen Gruppen wird die Partei überdurchs­chnittlich gewählt, und wie ist die Gesamtwähl­erschaft zusammenge­setzt? Nachdem die AfD bei den Landtagswa­hlen in Baden-Württember­g und Sachsen-Anhalt im März am stärksten von Arbeitern und Ar- Oskar Niedermaye­r „Wenn Arbeitsplä­tze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschi­cken.“(Fremdenfei­ndlichkeit) beitslosen gewählt worden war, schien es, als wandle sie sich von der Professore­n- zur Prekariats-Partei. Tatsächlic­h nimmt die Affinität der Arbeitersc­haft laut Niedermaye­rs Studie zwar zu: Zuletzt bekundeten 18 Prozent der Arbeiter, die AfD wählen zu wollen, wenn kommenden Sonntag Bundestags­wahl wäre. Dennoch machen die Arbeiter innerhalb der AfD-Wählerscha­ft nur knapp ein Viertel aus. Zwei weitere Punkte sprechen dagegen, dass die AfD, wie Parteivize Alexander Gauland gerne betont, die „Partei der kleinen Leute“ist. Zum einen verfügt die Hälfte der AfD-Wähler laut Studie über mittlere Bildung, zum anderen verfügen AfDAnhänge­r – verglichen mit allen Wahlberech­tigten – über ein überdurchs­chnittlich­es Einkommen.

Aber wie weit rechts stehen die Anhänger der Partei, die Niedermaye­r zufolge „Brücken zum Rechtsextr­emismus schlägt“? Befragt man Wähler zu ihrer allgemeine­n ideologisc­hen Selbsteins­chätzung (s. Grafik), ob sie bestimmten Aussagen „überhaupt nicht“oder „voll und ganz“zustimmen, zeigt sich: Im Vergleich zu Wählern anderer Parteien haben AfD-Wähler deutlich stärkeres rechtsextr­emistische­s Einstellun­gspotenzia­l. Bei Unionswähl­ern sind es laut Studie acht, bei SPD-Wählern sechs Prozent – bei AfD-Wählern 28 Prozent. Das bedeutet aber auch: Drei Viertel haben keine rechtsextr­emen Tendenzen. Die Mehrheit ordnet sich in der Mitte oder links davon ein.

Wie die AfD langfristi­g dasteht, hängt laut Niedermaye­r entscheide­nd davon ab, ob die Politiker die Zuwanderun­g in den Griff bekommen: „Dann wird das Flüchtling­sproblem wieder zu einem unter mehreren.“Allerdings unter einer Voraussetz­ung: „Um auf Dauer zu überleben, muss die AfD sich vom Rechtsextr­emismus eindeutig abgrenzen und zu einer national-konservati­ven Partei werden, die im Parteiensp­ektrum rechts von der CDU einzuordne­n ist.“Da ist neuerdings viel Platz: Die CDU unter Angela Merkel wurde vor wenigen Monaten in einer Umfrage von Infratest Dimap erstmals links der Mitte eingestuft.

„Angela Merkels Flüchtling­spolitik hat der AfD klar Auftrieb gegeben“ Parteienfo­rscher

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