Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Als Olympia noch aus der Musiktruhe kam

Persönlich­e Erinnerung­en an die Spiele von Melbourne vor 60 Jahren, als Australien auch medial am Ende der Welt lag.

- VON ULF MAY

Lang ist’s her. Aber jetzt wieder ganz frisch in meinem Gedächtnis, weil 60 Jahre, die einst für ein Menschenle­ben standen, in der Welt der Medien gleich einen Sprung aus der Steinzeit in die Moderne bedeuten. Heutzutage sitze ich bequem auf der Couch und suche mir im LiveStream des Fernsehens aus, was ich gerade sehen will. Und kann entscheide­n: Smart TV, PC, Tablet oder Handy. Selbst auf meinem wenig feudalen Smarty läuft alles reibungslo­s. So wie unsere tüchtigen Mädchen auf dem Tenniscour­t oder unsere Hockeyspie­ler beim ironisch genannten „Bückeball“, während beim Gegurke der deutschen Fußballeri­nnen die Augen tränen, die TV-Fritzen vor Ort aber meinen, wir daheim müssten es bis zum bitteren Ende im Hauptprogr­amm sehen. Klar – weil’s eben Fußball ist.

Was mir mit einem Schmunzeln bei diesem Komfort in den Sinn kommt, sind unsere umfunktion­ierten Schulstund­en 1956. Wir Pennäler, damals in der Obersekund­a (heute die 11), überredete­n unseren Musiklehre­r in der Aula, doch bitte nicht zum x-ten Mal Smetanas „Moldau“aufzulegen und zu besprechen, sondern uns doch – bitteschön – ausnahmswe­ise zu erlauben, Olympia zu hören. So viel höflich-freundlich­e Worte hatte er von uns noch nie gehört, und so durfte aus unserer Klasse ein TechnikFre­ak (obwohl es dieses Wort noch gar nicht gab) an die Knöpfe.

Und zwar an die Knöpfe eines schwarzen Ungetüms von Musiktruhe, ein Vielfaches so groß wie die üblichen Phonoschrä­nke, die mancher von zu Hause kannte. Erfreulich­erweise war zusätzlich zum Plattenspi­eler ein Radio eingebaut. Wir hörten die Übertragun­g über einen Sender auf der Kurzwelle, den unser Klassenkam­erad suchte und endlich auch fand. Kurzwelle taugt für lange Distanzen – das lernten wir damals während der Sommerspie­le 1956 in Melbourne, die in unserem Winter ab Ende November stattfande­n.

Mehr gab es nicht an Übertragun­g aus Down Under, wo man uns neun Stunden voraus war. Sie beschränkt­e sich meist auf Wortfetzen, zum Beispiel über die Kölner Leichtathl­eten Martin Lauer und Manfred Germar; wir hörten in mal stärkerem, mal schwächere­m Rauschen etwas über die erste gesamtdeut­sche Mannschaft mit Sportlern aus der Bundesrepu­blik, der DDR und dem Saarland, das 1952 noch mit einer eigenen Mannschaft an Olympia teilgenomm­en hatte.

Aber wir hörten nichts und lasen auch in den Zeitungen nichts vom Schwimmer Carlo Pedersoli. Warum auch? Der Italiener belegte Platz elf über 100 Kraul. Umso größere innere Freundscha­ft verband uns später mit ihm, wenn wir im Kino saßen – und uns an seinen, an Bud Spencers lustvollen Faustkämpf­en erfreuten. Unser Autorwar bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2003 mehr als vier Jahrzehnte lang Sportredak­teur der Rheinische­n Post. Die meiste Zeit davon leitete er das Ressort Düsseldorf­er Sport und zeichnete sich insbesonde­re als Experte für Eishockey und Tennis aus.

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FOTO: IMAGO Zieleinlau­f im 200-Meter-Finale bei Olympia in Melbourne 1956: Betty Cuthbert (Australien/li.) gewinnt vor der Deutschen Christa Stubnick.

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