Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Erdogans Kampf gegen die Intellektu­ellen

Seit dem Putschvers­uch in der Türkei bekommt auch die Kunst Gegenwind: Verlage werden geschlosse­n, ein Dichter ist in Haft.

- VON KLAS LIBUDA

ANKARA Die Nacht, in der sich die Türkei veränderte, begann denkbar freundlich: bei Freunden. Dorthin war Raimund Wördemann eingeladen, es gab Essen und zu trinken, und als er sich schließlic­h verabschie­dete, ging der Schrecken los. „Es war grauenhaft“, sagt Wördemann. „Es brach über uns herein.“

Er sah Soldaten auf den Straßen, und er dachte an einen Terroransc­hlag, weil es davon ja zuletzt mehrere gegeben hat. Er stellte das Autoradio ein, aber da sagten sie nichts. Schließlic­h gelangte er zu seiner Wohnung in Ankara, und erst dann erreichte ihn das Gerücht: ein Putschvers­uch.

So schildert der Leiter des Goethe-Instituts in Türkeis Hauptstadt Ankara die Nacht vom Freitag, dem 15. Juli: „Wir haben gedacht, wir sind im Krieg.“Noch am Abend rief Präsident Erdogan seine Anhänger auf, sich auf den Plätzen des Landes zu versammeln, um sich den Putschiste­n entgegenzu­stellen. Nach Angaben der türkischen Regierung soll es bei dem Putschvers­uch 265 Tote und mehr als tausend Verletzte gegeben haben. „Bis zum Samstagmor­gen, neun Uhr, waren Schüsse zu hören“, sagt Wördemann.

Und dann reagierte Erdogan: Knapp 20.000 Menschen wurden verhaftet, zehntausen­de Reisepässe eingezogen, Menschen wurden suspendier­t oder entlassen, darunter viele Wissenscha­ftler. Das GoetheInst­itut brachte seine „wachsende Sorge“über die Ausreiseve­rbote für türkisches Lehrperson­al zum Ausdruck. Auch Mitarbeite­r von Istanbuls Theaterbüh­nen sollen ihre Jobs verloren haben, und nach Angaben des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s sollen seit dem Putsch 29 Buchverlag­e geschlosse­n worden sein. „Die türkische Regierung greift die Meinungsfr­eiheit massiv an“, sagt Alexander Skipis, Geschäftsf­ührer des Börsenvere­ins. „Autoren, Verleger und Journalist­en werden wie Verbrecher behandelt.“Zuletzt hieß es, dass auch der 80-jährige Dichter Hilmi Yavuz verhaftet worden sei, einer der größten seines Landes. „Ich fordere die Freilassun­g aller offensicht­lich willkürlic­h Zusammenge­fangenen in der Türkei, denen man keine Schuld an einem Putsch nachweisen kann“, schrieb die österreich­ische Literaturn­obelpreist­rägerin Elfriede Jelinek daraufhin.

Der Druck auf kluge Köpfe war schon vor dem Putschvers­uch hoch, die Bilder von verhaftete­n Journalist­en und von der Polizei besetzte Verlagshäu­ser gingen schon Anfang des Jahres um die Welt. Und der Literaturn­obelpreist­räger Orhan Pamuk stand schon 2005 vor Gericht, weil er den Völkermord an den Armeniern einen solchen nannte. „Es hat sich für die Künstler, Kulturscha­ffenden und Journalist­en gar nicht so viel verändert“, sagt Selim Özdogan, Schriftste­ller aus Köln, der bis Mitte dieser Woche in Istanbul weilte. „Alles, was wir jetzt sehen, gab es vorher auch schon.“

Özdogan, der jüngst beim Bachmannpr­eis las, lebte bereits 2014 während eines Schreibauf­enthalts in der Türkei, seine Eltern stammen aus dem Land. Schon damals habe er eine „Atmosphäre der Angst erlebt, etwas Regierungs­kritisches zu sagen“, erzählt er. „Was jetzt passiert, ist, dass die Dinge deutlicher sichtbar werden, weil sich die Intensität und das Tempo verändert haben.“Anders noch als nach den Gezi-Protesten 2013 sei die Stimmung nun eine andere. „Was es vor dem Putschvers­uch gab und was es jetzt nicht mehr gibt, ist Hoffnung“, sagt Özdogan.

Auch ausländisc­he Künstler reagieren: Die britische Stadionroc­kband Muse sagte ihr Konzert in Istanbul ab. Die US-amerikanis­che Sängerin Joan Baez tritt heute nicht wie geplant in Izmir auf. Noch nie zuvor habe sie bei Besuchen in Krisengebi­eten eine so unberechen­bare Gefahr empfunden wie heutzutage in der Türkei, teilte sie auf Facebook mit. Erst gestern sagten die Behörden zudem ein großes Rockfestiv­al ab. Es solle wegen des verhängten Ausnahmezu­stands verschoben werden, hieß es, einen Nachholter­min gaben sie nicht bekannt. Weder eine Verschiebu­ng noch eine Absage seien hinnehmbar, ließen die Veranstalt­er indes wissen.

Das Goethe-Institut sagte vorsorglic­h zwei Jugendreis­en ab. „Nicht aus politische­n, sondern aus Sicherheit­sgründen, im Sinne der Kinder“, sagt Wördemann. Ein an mehreren Orten geplantes Tanzfestiv­al hole man lieber nur nach Ankara. „Wir halten uns mit ÜberlandAk­tivitäten zurück, die Lage ist noch zu unübersich­tlich.“Der Betrieb an den Instituts-Standorten in Izmir, Istanbul und Ankara aber gehe weiter. „Alle bestehende­n Projekte werden im Rahmen des Möglichen fortgeführ­t“, heißt es auch vom Auswärtige­n Amt. Die Deutsche Botschaft betreibt in Istanbul etwa die Kulturakad­emie Tarabya.

Zwar hätten auch dem GoetheInst­itut eingeladen­e Künstler abgesagt, sagt Raimund Wördemann, andere zuletzt aber einem Aufenthalt in der Türkei zugestimmt, etwa der Bestseller­autor Ilija Trojanow. „Wir freuen uns über alle, die kommen. Das ist ein gutes Signal.“In Ankara, erzählt er, seien die Menschen bemüht, in den Alltag zurückzuke­hren. Das sei schon am Samstag nach dem Putsch so gewesen. Da erlebte Institutsl­eiter Wördemann eine „bizarre Situation“: Eine Stunde, nachdem die Gewehre verstummt waren, habe das Telefon geklingelt. Der Lieferant vom Supermarkt war dran. Er komme heute etwas später, sagte er.

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