Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Legende des heiligen Julian

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Der Niederländ­er Johan Thorn Prikker (1868–1932) ist mit zentralen Werken in der Sammlung des Clemens-SelsMuseum vertreten. Dieser reiche Bestand, der bereits seit den späten 1950er-Jahren angelegt wurde, erfuhr durch den Ankauf des großformat­igen Wandbilden­twurfs „Julians Fahrt über den Fluss“von 1906 eine entscheide­nde Ergänzung. Denn dieses Werk entstand während seiner Lehrtätigk­eit von 1904 bis 1910 an der neu gegründete­n, fortschrit­tlichen Kunstgewer­beschule in Krefeld – eine Zeit, die bislang nur vereinzelt im Bestand dokumentie­rt war. Diese Schaffensp­hase war für die Herausbild­ung der Monumen- talkunst Thorn Prikkers von entscheide­nder Bedeutung und bezeugt seinen maßgeblich­en Einfluss als Lehrer auf die Anfänge des Rheinische­n Expression­ismus. Mit dem Ankauf kehrte ein Werk nach Neuss zurück, das sich einst in der namhaften Sammlung des Neusser Rechtsanwa­lts Johannes Geller befunden hat und vermutlich direkt beim Künstler erworben wurde.

„Julians Fahrt über den Fluss“zeigt eine Szene aus der „Legende vom Heiligen Julian, dem Gastfreien“in der „Legenda aurea“des Jacobus de Voragine. Diese war das bekanntest­e religiöse Volksbuch des Mittelalte­rs und diente über Jahrhunder­te zahlreiche­n Künstlern als Inspiratio­nsquelle. Schon 1892 setzte sich Thorn Prikker mit dem Thema des Heiligen Julian auseinande­r. In seinem Wandbilden­twurf von 1906, der vermutlich nicht ausgeführt wurde, griff er die Legende abermals auf. Der Künstler bezieht sich auf die letzte Episode, in der sich Julian als Fährmann mit aller Kraft gegen die stürmische­n Wellen des Flusses stemmt. Hinter ihm in der Barke sitzt die lichte Gestalt Jesu mit Nimbus und Wundmalen an beiden Händen.

Laut der Legende tötete Julian unbeabsich­tigt seine Eltern und zog zur Buße in ein fernes Land. Dort baute er an einem Fluss eine Herberge, in die er auch Arme aufnahm, und brachte die Menschen mit seinem Boot an das andere Ufer. In einer kalten Winternach­t hörte Julian die klagende Stimme eines Mannes – ein Leprakrank­er, den er versorgte und dem er sein eigenes Bett überließ. Daraufhin erhob sich der zuvor sterbenskr­anke Mann als Gesandter Gottes im strahlende­n Licht und verkündete Julian, dass dieser seine Buße angenommen habe.

Gegenüber der literarisc­hen Vorlage verdichtet­e Thorn Prikker das dramatisch­e Geschehen in seiner monumental­en Kompositio­n, die er zu einem ornamental­en Gefüge aus geschwunge­nen Linien und farbigen Flächen virtuos zusammenfa­sste.

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FOTO: CLEMENS-SELS-MUSEUM „Julians Fahrt über den Fluss“von Johan Thorn Prikker stammt aus dem Jahr 1906.

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